Rekrutierung im Ukraine-Krieg: Uniform statt Badehose
In der Ukraine geht die Mobilmachung weiter. An manche Männer werden auf offener Straße Vorladungen der Armee vergeben.
Es sind drei unbekannte Männer in Zivil, die an einem warmen Juliabend unter Tritten und Schlägen versuchen, in eine Privatwohnung in der westukrainischen Stadt Luzk einzubrechen. Dem Bewohner Walentin, der 2014 an der Front gekämpft hat, soll eine Vorladung übergeben werden. Doch er öffnet die Tür nicht, weil er durch den Spion unbekannte Gestalten sieht. Diese sagen, sie seien von der Polizei, weigern sich aber, ihre Dienstausweise zu zeigen.
Die Unbekannten brüllen noch ein paar Minuten, schüchtern die Nachbarn ein, dann gehen sie wieder. Als Walentin die Tür öffnet, flattert ein Stück Papier in seine Wohnung – eine Vorladung, ein „Ticket für den Krieg“.
Derartige Fälle haben in der Ukraine über den Sommer zugenommen. Normalerweise gehen Gruppen von drei Personen, darunter ein Polizist, in den Städten auf die Straßen, um Vorladungen auszuhändigen. Dabei passieren fragwürdige Dinge: In einem abgelegenen Dorf in Wolhynien wurden Männern Vorladungen überreicht, die auf der Straße Alkohol getrunken hatten. Im Gebiet Riwne verprügelte ein potenzieller Wehrpflichtiger einen Mitarbeiter des Militärregistrierungs- und Rekrutierungsamtes, der mit einer Vorladung zu ihm nach Hause gekommen war.
In Odessa machten Passanten ein Video von einem Kommissar, der in den zweiten Stock eines Hauses geklettert war, weil niemand ihm die Tür geöffnet hatte. Anwälte sagen, dass diese Art der Zustellung von Vorladungen möglicherweise illegal sei, aber die Rekrutierungszentren bestrafen Bürger weiterhin mit Vorladungen.
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Die Situation ist mitunter so verworren, dass in den sozialen Netzwerken immer häufiger Nachrichten auftauchen, die solche Vorfälle beschreiben. „Im Park werden Vorladungen verteilt. Leute, seid vorsichtig!“ Tausende solcher Nachrichten landen täglich über anonyme Kanäle auf Telegram. Sie wollen angeblich dabei helfen, Orte zu meiden, an denen Vorladungen verteilt werden.
Diese Kanäle erreichen ein Publikum von mehreren Hunderttausend Abonnent*innen, obwohl sie hauptsächlich Lügen verbreiten und Narrative über sogenannte psychologische Operationen vervielfachen. Oft sind die Kanäle Plattformen für eine typische Propaganda des Feindes, die Angst und Misstrauen unter den Menschen und gegenüber dem Staat hervorrufen soll und die Ukrainer*innen auffordert, den russischen Besatzern keinen Widerstand zu leisten. Aber so ist das nicht immer.
Etwa eine Million Menschen verteidigen die Ukraine
In der Ukraine läuft seit dem 24. Februar eine allgemeine Mobilmachung; sie soll mindestens bis zum 23. August dauern. Jeder Bürger der Ukraine, egal welcher Mobilisierungskategorie er angehört (zum Beispiel mit Kampferfahrung oder nicht), kann eine Vorladung erhalten – und zwar überall. Nach Verlusten im Osten der Ukraine brauchen die Streitkräfte Nachschub. Die Armee will wissen, wer morgen die Toten und Verwundeten ersetzt.
Ein weiterer Grund für die Aktivierung von Wehrkommissaren ist die weit verbreitete Praxis, Vorladungen für die Armee als Strafe für Bagatelldelikte auszusprechen. In Odessa beispielsweise werden Urlauber direkt am Strand vorgeladen. Damit wird gegen diejenigen vorgegangen, die sich trotz Verbots an den Stränden sonnen und im Meer schwimmen. Auch die Ausstellung von Vorladungen aufgrund von Verstößen gegen die Ausgangssperre oder gegen Verkehrsregeln ist eine gängige Praxis. In der Westukraine versucht man so, evakuierte Männer zu registrieren.
Für die ukrainischen Streitkräfte waren bis Mitte Juli bereits 700.000 Personen mobilisiert worden. Insgesamt verteidigen jetzt etwa eine Million Menschen die Ukraine – das sind Angehörige der Armee, der Polizei und anderer Sicherheitsstrukturen. Verteidigungsminister Olexij Resnikow geht davon aus, dass es keine Probleme mit der Mobilmachung im Land gibt und fast alle notwendigen Positionen in der Armee besetzt sind. „Wenn eine Vorladung übergeben wird, dann geht es nicht um Mobilmachung. Manche Personen sind aus Gebieten, die an der Front liegen oder besetzt sind, weggezogen und haben sich an ihrem neuen Wohnort nicht angemeldet. Im Rekrutierungsamt wird der Status überprüft – sie sind registriert oder Reservisten“, erklärt der Minister.
Resnikow betont zudem, dass die Zustellung der Vorladung keine direkte Eintrittskarte in den Krieg sei. Das bestätigen auch die Militärmelde- und Einberufungsämter: Kommissare griffen auf die Verteilung von Vorladungen an öffentlichen Orten zurück, weil dies eine effektivere Methode sei, als die Häuser der Wehrpflichtigen zu umrunden. Dort könnten sie vor verschlossenen Türen stehen.
Präsident Selenski reagiert auf Petition
Ein Offizier des Kommandos der Bodentruppen, Oberst Roman Gorbach, erklärte, dass die Vorladung in 90 Prozent der Fälle zur Klärung der Wehrfähigkeit einer Person ausgestellt werde, nicht jedoch zur sofortigen Einberufung. Denn in der Ukraine gibt es vier Typen von Vorladungen. Das Gesetz regelt jedoch nicht eindeutig, wo sie übergeben werden können – sei es an Checkpoints, in der Nähe eines Geschäfts, in einem Park, am Arbeitsplatz, zu Hause oder an einer Tankstelle.
Es ist verboten, Angehörige von im Krieg Getöteten oder Vermissten einzuziehen. Auch Wissenschaftler sind freigestellt
Die erste Art dient der Klärung von Informationen über eine Person, die zweite ist für eine ärztliche Untersuchung, die dritte für die Einberufung zum Militärdienst. Der vierte Typ ist ein Mobilisierungsbefehl, der einen Bürger verpflichtet, 12 bis 24 Stunden nach Erhalt des Dokuments in der Rekrutierungsstation zu erscheinen.
An öffentlichen Orten werden in der Regel Vorladungen ausgegeben, mit denen man schnell beim Militärrekrutierungsamt auftauchen, die notwendigen Angaben zur Person machen oder sich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen muss. Ohne Vorbereitung wird niemand sofort an die Front geschickt. Prioriät haben hier Leute mit Fronterfahrung. Minister Resnikow ist kategorisch gegen Vorladungen wegen Verstößen etwa gegen Verkehrsregeln. Er betrachtet solche Fälle als Diskreditierung der Armee.
Aus dem Innenministerium verlautete, dass jemand, der gegen die Sperrstunde verstoße, sich in Militärstuben verdächtig mache. Solche Leute würden jedoch nicht sofort an die Front geschickt, aber bei Bedarf stünden diese Wehrpflichtigen an erster Stelle, sagte Vize-Innenminister Jewgeni Jenin. An der Aushändigung von Vorladungen an Checkpoints und auf der Straße kann er nichts Schlechtes finden. „Viele meiner Freunde und Bekannten kämpfen an der Front. Einige sind gefallen, andere wurden verletzt. Sie hätten dem Krieg entgehen können, aber sie hielten es für ihre Pflicht, an die Front zu gehen. Gleichzeitig verbringen viele Menschen in der Ukraine Zeit am Strand oder auf Partys, das ist ungerecht“, sagte Jenin.
Transparente Regeln für die Zustellung von Vorladungen könnte es in der Ukraine jedoch schon bald geben. Präsident Wolodimir Selenski hat unlängst auf eine Petition reagiert. Deren Unterzeichner schlagen vor, dass die Verteilung von Vorladungen an Kontrollpunkten, Tankstellen und auf der Straße untersagt werden soll. Selenski hat die Regierung angewiesen, ein neues Verfahren zu entwickeln, das sowohl den Rechten der Bürger als auch den Auflagen der Gesetzgebung über die Wehrpflicht Rechnung trägt.
Zuvor war es dem Parlament bereits gelungen, die Regeln für die Mobilmachung in der Ukraine zu ändern. So ist es beispielsweise verboten, Angehörige von im Krieg Getöteten oder Vermissten einzuziehen. Vom Wehrdienst zurück gestellt werden Wissenschaftler und Lehrer, wenn sie in wissenschaftlichen Einrichtungen und Schulen tätig sind.
Aus dem Russischen von Barbara Oertel
Leser*innenkommentare
Herma Huhn
So eine Vorladung muss doch auf einen Namen ausgestellt sein. Haben die Ukrainer denn jederzeit einen Ausweis bei sich, selbst beim Baden am Strand?
Und suchen die Trupps nach bestimmten Personen, denen der Brief hierzulande per Post zugestellt würde, oder werden tatsächlich zufällige Passanten mit einer Vorladung beglückt?
Letzteres fände ich sehr verstörend, ich vermute aber der Eindruck täuscht weil der Bericht einach unzureichend ist.
Günter Picart
@Herma Huhn Wird beides gemacht: Adressen werden zwecks persönlicher Zustellung abgeklappert (oft erfolglos, weil die Männer sich verstecken). Und auf der Straße bekommen zufällig ausgewählte Männer, evtl. weil sie irgendwie auffallen oder kleinere Verwarnungen fällig sind, von Polizisten Einberufungen in die Hand gedrückt, die damit als persönlich zugestellt gelten.
Man muss bedenken, dass sich viele Männer im wehrfähigen Alter als Binnenflüchtlinge an ganz anderen Orten aufhalten als an ihren Meldeadressen.
Diese Einberufungszettel sind Formblätter, der Name wird vor Ort von dem Beamten eingetragen, wenn das Formular ausgehändigt wird. Wie exakt sichergestellt wird, dass man auf der Straße keinen falschen Namen angibt, wenn man sich nicht ausweisen kann, weiß ich aber nicht. Soviel ich weiß ist Herumlaufen ganz ohne Ausweis aber ohnehin nicht ratsam.
Pepi
@Herma Huhn Es herrscht einfach Krieg und die Ukraine steht mit dem Rücken an der Wand. Natürlich sind da die Feldjäger, Aushebungsgehilfen und sonstiges Personal unterwegs um die Drückeberger, die sich der nationalen Pflicht zum Widerstand, entziehen dingfest zu machen. Was ist daran verstörend?
LittleRedRooster
@Pepi "Was ist daran verstörend?" (Rohm Dietmar)
Ich finde es verstörend, wenn man die Logik der Krieger schon so weit verinnerlicht hat, dass man Menschen die einfach nur versuchen ihr Leben zu schützen, in dem sie sich dem Krieg durch Flucht entziehen, als "Drückeberger" beschimpft.
Ja, das finde ich wahrlich verstörend!
Günter Picart
@Pepi Nein, es geht nicht um Drückeberger, Wehrgerechtigkeit gibt es dort ja nicht und systematische Einberufungen funktionieren kaum, bei den vielen unbekannt verzogenen Binnenflüchtlingen noch weniger.
Das sind ganz normale Passanten, die ggf. irgendwie auffallen, etwa Verkehrssünder oder die Jungs am Strand oder so. Einberufung als Strafzettel zu verteilen ist üblich und wie der Artikel ja beschreibt regierungsintern umstritten: Verteidigungsressort ist dagegen (logisch, weil solchen Rekruten die Motivation fehlt, bislang wurden ja praktisch nur Freiwillige gezogen); Innenressort dafür (auch logisch, als Disziplinierungsmittel ist das effizient).
Typisch war z.B. die Situation in der Schlussphase der Belagerung von Mariupol, als Angehörige der eingeschlossenen Asow-Kämpfer eine ungenehmigte Demo in Kiew für deren Rettung veranstalteten: Die Frauen bekamen Platzverweise, die Männer eine Einberufung (als Strafersatz) in die Hand gedrückt.
www.theguardian.co...est-ukraine-russia
Denkender_Buerger
An den Straßenrändern im rumänisch-ukrainischen Grenzgebiet sieht man sie in Heerscharen an den Straßenrändern stehen:
Junge Männer in seltsamer Bekleidung und mit desorientiertem Blick, die ganz offenbar illegal über die Grenze nach Rumänien geflohen sind, um ihrer Einberufung zur ukrainischen Armee zu entgehen.
In Rumänien genießen sie (genau wie in der übrigen EU) ja den Status als Kriegsflüchtlinge und dürfen nicht in die Ukraine abgeschoben werden. Vielmehr darf die rumänische Polizei sie nur "einsammeln" und zur nächsten Aufnahmestelle bringen.
Was auch geschieht - die rumänische Polizei ist im Grenzgebiet zur Ukraine sehr präsent.
Warum wird darüber in den deutschen Medien kaum berichtet?
Günter Picart
Zum besseren Verständnis muss man dazu sagen, dass Einberufungen (hier "Vorladungen" genannt) in Ukraine nur wirksam sind, wenn sie höchstpersönlich zugestellt werden, also dem Empfänger persönlich in die Hand übergeben werden. Eine postalische Zustellung an die Wohnadresse reicht nicht aus. Da es keine Wehrdienstverweigerung gibt, war es immer schon eine gängige Methode für Männer, die nicht einberufen werden wollen, dem Zusteller die Tür nicht aufzumachen oder die Schwester rauszuschicken mit der Angabe, man sei nicht zu Hause. Ohne diese Hintergrundinfo sind die kuriosen Pressmethoden (Übergabe an öffentlichen Orten usw.) hier glaube ich schwer verständlich.