Reichsbürgerprozess in Stuttgart: Der Computer-Nerd des Prinzen
Am zweiten Tag im Stuttgarter Reichsbürgerprozess sagt Wolfram S. aus. Er will von den Absichten der Truppe nichts gewusst haben. Ist das glaubwürdig?
Es ist der zweite Prozesstag des Stuttgarter Verfahrens im Mammutverfahren gegen die mutmaßliche Verschwörergruppe um Prinz Reuß. Die insgesamt 26 Angeklagten, die sich in Stuttgart, München und Frankfurt am Main vor Gericht verantworten müssen, sollen einen gewaltsamen Umsturz geplant haben. In Stuttgart geht es vor allem um den militärischen Arm der Gruppe, der die Machtübernahme mit Waffengewalt hätte durchsetzen sollen. Dazu ist laut Anklage schon mit dem Aufbau von mehr als 280 militärisch organisierten Heimatschutzkompanien begonnen worden.
S. hat wohl nie eine Waffe in der Hand gehabt. Er war Wehrdienstverweigerer. Ein eher schlanker Mann mit kurz geschorenen Haaren, im kurzärmligen blauen Hemd, die Brille wie ein Visier auf die hohe Stirn geschoben. Er ist der erste und bisher einzige der acht Angeklagten, der in vollem Umfang aussagen möchte. Das Gericht nimmt sich dafür den ganzen Tag Zeit.
Bei Wolfram S. kann man erfahren, wie der Weg eines gut ausgebildeten Systemtechnik-Ingenieurs in den Dschungel von Verschwörungserzählungen führen kann. Und man erkennt, dass S. eine Art Keramik-Strategie verfolgt. Von den hässlichen Absichten der Reuß-Gruppe soll möglichst wenig an ihm hängen bleiben. Er will nur der unpolitische Computer-Nerd des Prinzen gewesen sein.
S. berichtet, dass Katastrophenvorsorge in seiner Familie immer eine Rolle gespielt habe. Der Vater, Mediziner und Atomkraftgegner, habe sich sogar einmal ein Angebot für einen Atombunker machen lassen. Nach seiner Scheidung im Jahr 2019 beschäftigt sich der studierte Elektronikingenieur intensiver mit Katastrophenvorsorge und macht eine Ausbildung zum Schamanen. Dann kommt Corona.
Nichts dabei gedacht?
Über ein eigenes Plattform-Projekt zur Nachbarschaftshilfe kommt S. in Kontakt mit der Prepperszene. In Chats macht er Bekanntschaft mit Verschwörungserzählungen über eine angebliche Allianz und einen Tag, an dem dieser Verbund der ehemaligen Siegermächte die vermeintlich fehlende Souveränität der Bundesrepublik wieder herstelle. S., der Diplomingenieur, sagt: „Ich hab mir das alles angehört, konnte es aber nicht überprüfen. Mein Grundsatz ist: Ich glaube nix, halte aber alles für möglich.“
2021 kommt er mit den mutmaßlichen Reuß-Verschwörern in Kontakt. Er trifft Marco von H. und seine Bekannte Mirka W. auf einer Prepperveranstaltung. Bereit sein, falls die Zivilisation zusammenbricht, das sei für ihn immer ein Thema gewesen und mit dem Corona-Lockdown immer wichtiger geworden. Mirka W. spricht ihn an, es gebe da eine Gruppe, die es mit der Krisenvorsorge ernster meine, die wolle für den Fall gerüstet sein, dass zum Beispiel das Finanzsystem zusammenbreche. „Ich hielt das nicht für sehr wahrscheinlich“, sagt S. Er habe den Eindruck gehabt, dass er seine Ideen für eine Plattform der gegenseitigen Nachbarschaftshilfe habe einbringen können.
Und spätestens da erscheint die Aussage des Angeklagten S. wenig glaubwürdig. Ihm kommen nicht einmal Zweifel, als Mirka W. ihm bei einem persönlichen Treffen die Verschwiegenheitserklärung der Gruppe vorlegte: Wer sein Schweigen breche, dem drohe die Todesstrafe. S. will das nicht ernst genommen haben. „Das war ja wie beim Schuh des Manitu“, sagt er. „Ich habe gedacht: Dann müssen sie mich halt umbringen. Dann haben sie aber auch keinen ITler mehr“.
S. kann sich gewandt ausdrücken, er macht vor Gericht ironische Bemerkungen. Er kann sehr klar und detailliert Auskunft geben, solange es ihn nicht belastet. Das Bild, das Wolfram S. von sich selbst zeichnet, ist mindestens widersprüchlich. Einerseits beschreibt er sich als Menschen, der schon als Sechsjähriger alles auseinandergebaut habe, um dahinterzukommen, wie es funktioniere. „Ich war ein Warum-Kind, wohl ziemlich anstrengend“, sagt er.
Andererseits, wenn kaum zu übersehen oder zu überhören ist, dass sich die Führungstruppe weniger für Essensvorräte zum Katastrophenschutz interessiert als für Waffen und Rangabzeichen, will er nicht weiter nachgefragt haben. Er verweist auf seine „katastrophale Allgemeinbildung“, will gedacht haben, dass die Reuß-Truppe am Tag X mit der Bundeswehr zusammenarbeiten würde. Für Politik und Geschichte interessiere er sich nicht, deshalb habe er nicht gewusst, dass die Bundeswehr militärisch nicht im Inland eingesetzt werden dürfe.
Der „Schöpfer“ habe jetzt genug
„Ich unterscheide Dinge danach, ob sie eine unmittelbare Auswirkung auf mein Leben haben oder nicht“, sagt er. Und so setzt der Elektronik-Ingenieur, dem Datenschutz, wie er sagt, sehr wichtig sei, einen Fragebogen digital um. Mit dem wollte die Truppe durch Ortschaften ziehen und abfragen, wer Waffenerfahrung hat oder Probleme damit, „mit Verstorbenen umzugehen“. Die erste Frage auf dem Formular – noch vor den persönlichen Angaben: „Sind sie geimpft?“
Irgendwann ruft die Gruppe den 22. August 2022 als Tag X aus. Was da genau passiert, ist Wolfram S. unklar. Es könnte zu Stromausfällen und der Unterbrechung der IT-Versorgung kommen, heißt es. Dafür soll sich die Gruppe im Haus des Logistikchefs M. versammeln. Wolfram S. entdeckt seine naturwissenschaftliche Denkweise kurzzeitig wieder und möchte Genaueres wissen: Was steht bevor, wie soll reagiert werden. Um das zu erfahren, fährt er am Vortag extra zu Marco van H. Der hat wenig Zeit und sagt nur: „Der Schöpfer hat jetzt genug.“ S. will das einfach so hingenommen haben, wie auch zuvor den Reichsadler oder auch die Formulierung auf einem Fragebogen: „Falsche Aussagen werden als Hochverrat gewertet und durch ein Militärgericht abgehandelt.“ Der Tag X fällt aus, Wolfram S. will ab da nur noch passives Mitglied gewesen und seinen Ausstieg geplant haben.
Keiner wird Wolfram S. für ein wirklich militantes Mitglied der Gruppe halten können, er hat für die digitale Logistik gesorgt. Wie viel er von den möglichen Umsturzplänen heute gewusst haben will, ist offensichtlich: nichts. Wie viel er gewusst haben konnte, machen die Dokumente klar, die an diesem Tag für alle sichtbar auf dem Projektor liegen. Ziemlich viel.
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