Regisseurin zu Abtreibungs-Drama „April“: „Die Klinik war ein sicherer Ort“
In ihrem Film „April“ zeigt Dea Kulumbegaschwili eine mutige Gynäkologin. Die Regisseurin spricht über ihr Exil in Berlin und die Lage in Georgien.
Gleich für ihr Regiedebüt „Beginning“ wurde Dea Kulumbegaschwili beim Festival in San Sebastián 2020 mit dem Hauptpreis ausgezeichnet. Im Mittelpunkt des neuen Films der 1986 geborenen Georgierin steht eine Gynäkologin, die Frauen bei der Geburt hilft, aber auch auf eigenes Risiko illegale Schwangerschaftsabbrüche durchführt. In „April“ verbindet Kulumbegaschwili Sozialdrama mit Körperhorror und Slow Cinema zu einer radikalen Seherfahrung.
taz: Frau Kulumbegaschwili, am Anfang von „April“ zeigen Sie in einer langen Einstellung eine echte Geburt. Ihr erster Film beginnt mit einem unerwarteten Anschlag. Was reizt Sie an diesen verstörenden Einstiegen?
Dea Kulumbegaschwili: Ich finde, Kino ist dazu da, wachzurütteln und aus der Komfortzone herauszureißen. Bei „Beginning“ hielt mich mein Co-Autor zunächst für verrückt. „Wie willst du das noch toppen?“ Aber darum geht es mir gar nicht. Kino ist für mich nicht Steigerung, sondern Anhäufung. Etwas sammelt sich an, innerhalb von Szenen und auch dazwischen. Es erfordert ein Engagement des Publikums, ich verstehe Kino als einen Dialog. Manche werden meinen Film mögen, andere ihn hassen. Die unterschiedlichen Reaktionen interessieren mich.
„April“. Regie: Dea Kulumbegaschwili. Mit Ia Suchitaschwili, Katcha Kinsuraschwili u. a. Georgien/Frankreich 2024, 134 Min. Ab 1.8. auf Mubi
taz: Wie bereits Ihren ersten Langfilm „Beginning“ haben Sie „April“ in Ihrem Heimatort Lagodechi gedreht. Unter welchen Bedingungen war das möglich?
Kulumbegaschwili: Der örtliche Polizeichef war zu der Zeit jemand, mit dem ich zur Schule gegangen war. Während der Vorbereitungen des Films kam er öfter vorbei und wir waren froh, uns zu sehen und über unsere Kindheit zu sprechen. Aber zugleich versuchte er ständig, mich dazu zu bringen, seltsame Fragen zu beantworten. Dann passierte etwas Schreckliches, das zum Wendepunkt für uns alle wurde. Eine junge Frau, die wir beide seit der Kindheit kannten, wurde von ihrem Ex-Mann ermordet. Kurz darauf ließ der Polizeichef sich in eine andere Stadt versetzen. Vermutlich konnte er nicht ertragen, emotional so nah dran zu sein. Zu diesem Zeitpunkt wurden auch unsere Arbeitsbedingungen verschärft. Wir hatten keinen Zugang mehr zu bestimmten Orten, waren unter Dauerbeobachtung. Sie folgten uns überall. Nur in die Entbindungsklinik durften sie nicht. Sie war ein sicherer Ort.
1986 geboren, wuchs in Georgien auf. Sie studierte in New York an der New School und machte ihren Master in Filmregie an der Columbia University. Ihr erster Kurzfilm, „Invisible Spaces“, lief 2014 als erster Film aus Georgien seit der Unabhängigkeit des Landes in Cannes. „Beginning“, ihr Spielfilmdebüt, wurde 2020 im Wettbewerb des Filmfestivals von San Sebastián gezeigt.
taz: Im Mittelpunkt des Films steht mit der Gynäkologin Nina erneut eine komplexe weibliche Figur.
Kulumbegaschwili: Ich erlebe als Frau Dinge auf eine bestimmte Art und Weise. Wenn du in einer sehr patriarchalischen Gesellschaft wie Georgien aufwächst, wird die eigene Weiblichkeit sogar noch stärker bewusst, weil du jeden Tag daran erinnert wirst, als Frau nicht gleichberechtigt zu sein. Mittlerweile lebe ich in Berlin und frage mich, wie es wohl wäre, wenn ich hier aufgewachsen wäre. Es hätte mich sicher auf eine andere Art geprägt, aber ich denke, ein gewisses Gefühl von Verletzlichkeit ist universell.
taz: Beruht Nina auf einem realen Vorbild?
Kulumbegaschwili: Für mich waren anfangs zwei Figuren aus der Literatur wichtig. Fürst Myschkin in Dostojewskis „Der Idiot“ und Don Quijote von Cervantes. Beides Männer, die in sinnlose Kämpfe verstrickt sind. Kämpfe, die keine Früchte tragen. Für mich ist Nina ein tragischer Held, eine epische Figur, die Leben und Tod in sich verkörpert. Aber es ist ein letztlich aussichtsloser Kampf. Derzeit verschärft sich die Gesetzgebung beim Thema Abtreibung wieder, auch in Europa und den Vereinigten Staaten.
taz: Sie leben in Berlin, haben längere Zeit mit einem Künstlerstipendium in San Sebastián am Film gearbeitet. Wie hat diese Distanz den Film beeinflusst?
Kulumbegaschwili: Ich brauche immer wieder diese Distanz, weil ich sehr emotional bin und mich Dinge sehr mitnehmen. Ich habe eine sehr seltsame Beziehung zu meinem Land. Ich liebe Georgien, für mich ist es sehr wichtig, Filme in georgischer Sprache zu drehen. Dort zu sein, ist für mich eine sehr intensive Erfahrung. Dann brauche ich den Abstand, um das zu verarbeiten. Ich bin auch nicht auf sozialen Medien, weil es mich so überwältigen würde, dass ich nicht mehr funktionieren könnte. Für meinen kreativen Prozess sind Zeit und Ruhe wichtiger als Geld.
taz: Vergangenen Herbst feierte „April“ auf dem Filmfest Venedig Premiere und wurde dort mit dem Preis der Jury ausgezeichnet. Wie haben Sie die Zeit seitdem erlebt?
Kulumbegaschwili: Einerseits war es ein schöner und besonderer Moment, den ich mit meinen Schauspielern teilen konnte, denn zu diesem Zeitpunkt war Georgien politisch gesehen bereits in der Krise. Der Preis war eine tolle Würdigung. Aber nun sind 11 Monate vergangen und der Film war noch immer nicht in Georgien zu sehen. Nirgendwo, nicht einmal in den kleinsten Kinos. Es laufen nur Blockbuster. Alles, was auch nur im Entferntesten politisch kontrovers ist, wird einfach nicht gezeigt. Die Theater sind gleich ganz geschlossen, es gibt keine Aufführungen, und die Schauspieler sind jeden Tag auf der Straße. Ich war sehr lange vorsichtig mit dem Begriff „Diktatur“, nannte es erst Autoritarismus, aber es ist eine Diktatur. Seit den Wahlen im Oktober, deren amtliches Ergebnis zweifelhaft ist, gibt es Proteste, gegen die das Regime hart vorgeht. Oppositionelle sitzen im Gefängnis müssen mit vielen Jahren Haft rechnen.
taz: Trotzdem sind Sie gerade in Georgien. Warum?
Kulumbegaschwili: In Berlin ist für mich alles einfacher, ich bin dort freier. Irgendwann hat man es einfach satt, Angst zu haben. Emotional ist es für mich gerade sehr schwierig, denn ich habe das Gefühl, mein Land und alles verloren zu haben, woran ich geglaubt habe. Ich habe in meinem Leben schon an vielen Orten gelebt, in den Vereinigten Staaten studiert. Und es war damals meine bewusste Entscheidung, nach Georgien zurückzukehren und hier Filme zu drehen. In der jetzigen Lage ist das unmöglich. Ich bin hier, weil es um mehr geht als Kino und Kunst. Es geht um das grundlegende Recht auf freie Meinungsäußerung. Ich bin in der glücklichen Lage, jederzeit ausreisen zu können. Aber die meisten Menschen hier können nicht weg.
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Trailer „April“

taz: Ist Ihre Rückkehr also ein Akt der Solidarität?
Kulumbegaschwili: Für mich ist es sehr irrational, um ehrlich zu sein. Ich bin mit meinem kleinen Sohn hier, den ich letztes Jahr geboren habe. Das ist vielleicht keine sehr kluge Entscheidung. Aber ich vermisse mein Land. Erst gestern war ich wieder im Osten des Landes, von wo ich stamme. Es ist wichtig für mich, mit den Menschen dort zu sprechen. Dort gibt es wenig Proteste, aber man spürt, dass sie im Moment keine Hoffnung haben.
taz: Haben Sie überlegt, „April“ inoffiziell zu zeigen?
Kulumbegaschwili: Ja, schon allein wegen all der Menschen, die den Film mit mir gemacht haben. Aber wir müssen sehr vorsichtig sein, damit niemand gefährdet wird. Wir sind uns alle einig, dass er zumindest einmal gezeigt werden muss und ein paar hundert Leute ihn sehen. Denn ich habe „April“ mit einer überwältigenden Wut auf alles gedreht, was in diesem Land passiert ist.
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