Regionalwahl in Kalabrien: Ganz unten

Mehr als auf die Politik hofft die Bevölkerung Kalabriens auf einen Wandel durch die Justizbehörden. Denn bislang gewinnt immer nur eine: die Mafia.

Innenminister Matteo Salvini spricht auf einer Kundgebung

Lega Chef Salvini bei einem Wahlkampfauftritt in Kalabrien Foto: Photo Press/imago

REGGIO CALABRIA taz | Wer Kala­brien in seiner Drastik und Dramatik verstehen will, kommt vielleicht am besten am 5. Januar in den Norden der Provinzhauptstadt Cosenza. Dort, am zentralen Omnibusbahnhof nahe der Autobahn, versammeln sich alle Jahre wieder Tausende junge Leute wie Zugvögel: Studierende und Arbeitende, die die Weihnachtsfeiertage bei ihren Familien verbracht haben und nun einigermaßen günstig zu ihrem eigenen Leben im Norden zurückkehren, fern von ihren Lieben.

Wann sie es sich leisten können, wiederzukommen, hängt nicht nur von ihren Arbeitgebern ab. Es gibt Tage im Jahr, da kostet der Flug Mailand–Reggio Calabria mehr als der von Mailand nach New York.

Nach dem letzten Eurostat-Bericht liegt Kalabrien unter den europäischen Regionen ganz hinten, mit einer Arbeitslosenquote der 15- bis 24-Jährigen von 52,7 Prozent. Der Mittelwert in der EU liegt bei 15,2 Prozent. Fast ein Viertel der Erwerbsfähigen ist ohne Arbeit, auch hier liegt die südlichste Region des Stiefels weit „vorn“. Einer von fünf Jugendlichen geht hier ohne Abschluss von der Schule, 180.000 junge Menschen haben ihre Heimat in den letzten 15 Jahren verlassen – und zwar vor allem die besser Ausgebildeten, die keine adäquate Beschäftigung finden.

Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit – das sind die Hauptübel, von denen Kalabrien heimgesucht wird, gleichauf mit der totalen Herrschaft der Mafia­or­ga­nisation ’Ndrangheta, der sich niemand entziehen kann, der hier lebt, die einem die Luft zum Atmen nimmt.

Der Autor ist Gründer und Chefredakteur der Netzzeitung Il Dispaccio in Reggio Calabria. Er berät die Antimafiakommission des italienischen Parlaments. 2019 wurde er für seine jour­na­listische Arbeit mit dem „Premio nazionale Paolo Borsellino“ ausgezeichnet. Claudio Cordova wird auch auf dem taz lab am 25. April 2020 in Berlin zu Gast sein.

Wie in der Kleinstadt Limbadi in der Provinz Vibo Valentia, wo die ’Ndrangheta am 9. April 2018 unter dem Auto des 42-jährigen Matteo Vinci eine Bombe platzierte, ihn ermordete und seinen 70-jährigen Vater schwer verletzte, weil sie dem mächtigen lokalen Clan Mancuso keine Grundstücke verkaufen wollten. Zu den Mancusos sagt niemand nein, war die Botschaft, die gehört wurde: Keiner in Limbadi half den Ermittlungsbehörden.

Ein Netz aus Abhängigkeiten

Und doch haben die jüngsten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und insbesondere der regionalen Abteilung der Antimafiabehörde (Direzione distrettuale antimafia, DDA) unter Leitung von Nicola Gratteri in der kalabrischen Hauptstadt Catanzaro ein Netz von Beziehungen und Abhängigkeiten aufgedeckt, auf das die Mafia bauen kann: von Politikern, Unternehmern, Selbstständigen und sogar Priestern. Organisiert in Freimaurerlogen – die mit der Ursprungsidee nichts mehr zu tun haben – wird das öffentliche Leben kontrolliert, werden staatliche Gelder abgezweigt.

Das sind die Umstände, unter denen Kalabrien am Sonntag ein neues Regionalparlament wählt. Die Augen der italienischen Medien sind dabei – wie immer, muss man sagen – vor allem nach Norden gerichtet, auf die gleichzeitig stattfindenden Wahlen in der reichen Region Emilia-Romagna. Und doch sind diese Wahlen für Kalabrien die vielleicht letzte Chance, der wirtschaftlichen, politischen, sozialen und nicht zuletzt der moralischen Depression etwas entgegenzusetzen.

Der scheidende Präsident Ma­rio Oliverio wird mit einem solchen dringend nötigen Aufbruch nichts mehr zu tun haben. Der Politiker der sozialdemokratischen PD (Partito Democratico) stellt sich nicht zur Wiederwahl. Er hat in seiner fünfjährigen Legislaturperiode nichts bewegt, zudem ermittelt die Justiz gegen ihn wegen zahlreicher vermuteter Unregelmäßigkeiten in der Amtsführung.

Für das als klarer Favorit in die Abstimmung gehende rechte Lager tritt Jole Santelli an, seit 33 Jahren im Politgeschäft, die das Handwerk von ihrem Förderer Silvio Berlusconi gelernt hat und von Lega-Führer Matteo Salvini unterstützt wird. Die Lega, die als „Lega Nord“ für den Süden Italiens früher nur rassistische Beleidigungen übrig hatte, kann sich inzwischen über breite Unterstützung aus der Bevölkerung freuen – auch wenn prominente Kandidaten der Santelli unterstützenden Liste „Casa delle Libertà“ (Haus der Freiheiten) kürzlich vom italienischen Rechnungshof zur Rückerstattung von jeweils 60.000 Euro verurteilt wurden, weil sie für die Gruppen im Regionalparlament bestimmte Gelder widerrechtlich verwendet hatten.

Die Menschen gehen zur Unterstützung der Justiz auf die Straße – nicht für die Politik

Solche negativen Nachrichten dürften den Erfolg der Rechten kaum gefährden. Im Gefühl des bevorstehen Triumphs hat Salvini sich auch einen Wahlkampfauftritt in Riace nicht nehmen lassen – dem Ort, wo Bürgermeister Mimmo Lucano über Jahre ein Symbol der Hoffnung und der Integration von Migranten gesetzt hatte.

Der PD setzt auf den Unternehmer Pippo Calippo, seine Thunfischkonservenfabrik ist eines der wenigen erfolgreichen Beispiele in Kalabrien. Die Firma sponsert auch eine Volleyballmannschaft, die in der höchsten italienischen Liga spielt, die Wahl Calippos zum Spitzenkandidaten musste aber trotzdem von oben, vom PD-Vorsitzenden Nicola Zingaretti durchgesetzt werden. Der Unternehmer Calippo gilt vielen in der Partei als wirtschaftlich zu rechts, aber vor allem als moralisch zu „unflexibel“ – hat er doch Kandidaturen von juristisch Vorbelasteten kategorisch ausgeschlossen und will sich auch nicht mit Leuten umgeben, die schon seit Jahrzehnten in der heimischen Politik mitmischen.

Bei der 5-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle, M5S) war lange nicht klar, ob sie überhaupt an den Wahlen teilnehmen würde. Schließlich einigte man sich doch noch auf den Unidozenten Francesco Aiello. Der gefällt so einigen in der Bewegung allerdings gar nicht, insbesondere nicht dem Vorsitzenden der Nationalen Anti­mafia­kommission Nicola Morra, der Aiello für nicht kandidabel hält, weil er verschwieg, dass einer seiner Cousins der ’Ndran­gheta zugerechnet wird. Die Großen des M5S haben sich denn auch kaum blicken lassen im kalabrischen Wahlkampf.

Die Chance auf Befreiung

Der stärkste Gegner aller Parteien dürfte aber die niedrige Wahlbeteiligung werden. Jahre der Misswirtschaft und Korruption haben das Vertrauen, dass sich durch Politik und Wahlen etwas an den katastrophalen Lebensverhältnissen in der Region ändern ließe, tief erschüttert.

Weil er das Netzwerk zwischen Kriminellen und Teilen der wohlhabenden Gesellschaft Stück für Stück offenlegt und zerstören will, sehen viele in Kalabrien in der Justiz, in Nicola Gratteri und seinen Ermittlungen die einzige Chance für die Befreiung Kalabriens. So kam es zu der doch ungewöhnlichen Begebenheit, dass Tausende Bürger nicht etwa für einen Politiker oder eine Partei auf die Straße gingen, sondern zur Unterstützung der Arbeit der Justizbehörden – so geschehen in Catanzaro am vergangenen Samstag.

„Alle für Gratteri“ jubelten die Menschen vor seinem Amtssitz dem Juristen zu. Und doch versteht Kalabrien nur zur Hälfte, wer nicht klar sieht, dass sich unter diese Bürger auch scheinheilige Politiker mischten, die kein Problem damit haben, Mafia­ver­däch­tige auf ihren Listen kandidieren zu lassen, Leute, die öffentliche Gelder unterschlagen haben, oder solche, die bereits verurteilt wurden, weil sie ihre politische Tätigkeit für kriminelle Zwecke nutzten.

Richtig freie Wahlen gibt es in Kalabrien ohnehin nicht: Schon immer ist es der ’Ndrangheta gelungen, den Sieger zumindest teilweise für die eigenen Zwecke einzuspannen oder gleich die ihr zur Verfügung stehenden Stimmpakete dem gewünschten Kandidaten zuzuschanzen.

Wer allerdings glaubt, der Mob würde sich damit begnügen, die Stiefelspitze Europas zu beherrschen, der verkennt den internationalen Charakter der ’Ndran­gheta. Folgt man der Spur des Geldes, kommt man unweigerlich auch nach Deutschland, einem der beliebtesten Investitionsziele der Mafia. Und dass seit dem Massaker von Duisburg, wo 2007 zwei verfeindete Clans sechs Tote zurückließen, nicht mehr geschossen wird, sollte die Deutschen nicht beruhigen. Denn das bedeutet vielmehr, dass die Geschäfte der ’Ndran­gheta glänzend laufen.

Aus dem Italienischen von Ambros Waibel

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