Zukunft durch Migration: Ein weltoffenes Dorf
In Kalabrien bekommen leere Bergdörfer eine zweite Chance. Die Aufnahme von Asylbewerberinnen und Flüchtlingen bringt Leben.
Der Wind hat sie hergeweht“, antwortet Domenico Lucano, wenn man ihn fragt, warum er in seinem Dorf so viele Flüchtlinge aufgenommen hat. Er erzählt von der antiken Gastfreundschaft der Mittelmeervölker, die ihre Türen für alle öffnen, die über das Meer getrieben werden. „Hier in Riace standen viele Häuser leer und die Leute brauchten eine Bleibe. Das war die Grundidee, ganz einfach“, erzählt er. Bis vor zwei Jahren war Lucano Bürgermeister von Riace, einem kleinen Dorf in den kalabresischen Bergen. Hier traf sich jahrelang die Welt: Fernsehteams, Soziologinnen, Neugierige, politische Gruppen, Europaabgeordnete, und zwischendrin drehte Wim Wenders einen Film über das Wunder von Riace. Das Dorf über der ionischen Küste galt als Modell für eine humane Integration.
Der Mann, der dieses Wunder ermöglicht hat, sitzt jetzt allein auf der Treppe vor der Taverna Donna Rosa. Dort, auf der kleinen Piazza mit Steinmäuerchen und Pflastersteinen, saß er schon immer. Auch als es hier noch vor Menschen wimmelte, weil es der Treffpunkt des Villaggio Globale, seines globalen Dorfes, war. Domenico Lucano, genannt Mimmo, war von 2004 bis 2018 Bürgermeister von Riace. Er hat Hunderte von Flüchtlingen mit offenen Armen aufgenommen, gemeinsam mit ihnen leere Wohnungen renoviert, und sie haben in Werkstätten und kommunalen Projekten gearbeitet. Auch Bars, Läden und die Schule machten wieder auf. Ein fast verlassenes Dorf erwachte zu neuem Leben.
Dann wurde auf Druck von Matteo Salvini, Innenminister der damaligen Rechtsregierung, mit einem Schlag alles beendet – unter persönlichen Anschuldigungen gegen Lucano, vor allem wegen Beihilfe zu illegaler Einwanderung. Er wurde unter Hausarrest gestellt, die Fördergelder wurden gestrichen, und die meisten Migranten zogen fort. „Es ist eine politische Kampagne“, erklärte er damals, als er nicht einmal den Boden seiner Gemeinde betreten durfte.
Jetzt ist Mimmo Lucano wieder da. Die Anschuldigungen sind fast alle vom Tisch, aber er muss noch einmal von vorne anfangen. Das will er auch. Denn sein Experiment hat Erfolg, trotz aller Widerstände. Es ist heute ein Vorbild für die umliegenden Dörfer der Provinz Locride, die zu den ärmsten Italiens gehört und wo die Mafia-Organisation 'Ndrangheta seit jeher ihr Unwesen treibt.
Auch weitere Gemeinden machen mit
Inzwischen setzen weitere Gemeinden wie Monasterace, Gioiosa Ionica und Caulonia auf dieses Modell, das jetzt auch eine rechtliche Grundlage hat. Aus der Erfahrung in Riace ist ein außergewöhnlich fortschrittliches Gesetz der Region Kalabrien entstanden. Es trägt die Nummer 18/2009 und fördert die Aufnahme von Asylbewerberinnen und Flüchtlingen im Hinblick auf die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung von lokalen Gemeinschaften.
Auch im Nachbarort Camini, der etwas höher liegt und den Blick auf ein atemberaubendes Bergpanorama freigibt, hat man von Riace gelernt. Auf der zentralen Piazza vor dem Rathaus herrscht Betriebsamkeit. Eine Gruppe Schulkinder zieht vorbei. Manche sprechen den lokalen Dialekt, ein Mädchen ruft etwas auf Arabisch. Neben der Bar sitzen ein Dutzend Personen im Halbkreis und diskutieren. Sie sind zu einem Fortbildungskurs von Amnesty International aus ganz Italien angereist. Daneben steht der Dorfpfarrer und hört zu. Das Thema der Runde ist die Immigration in Italien.
Eine neue Heimat
Viele der Migrantinnen und Migranten, die an den Meeresküsten stranden und um die sich weder der italienische Staat noch Europa kümmern, verdingen sich als Sklavenarbeiter auf den Tomatenfeldern oder als Handlanger von Mafiabanden. In Riace und Camini hingegen arbeiten sie in Werkstätten und in Genossenschaften für Gemeindedienste. Diese Projekte werden vom italienischen Staat gefördert und per Ausschreibung vergeben. In diesen fortschrittlichen Aufnahmestrukturen leben Asylbewerber nicht in Heimen, sondern werden auf leerstehende Wohnungen verteilt. Für die Migranten und Migrantinnen ist es eine wichtige Station, um nach erlebten Strapazen ins Leben zurückkehren zu können. Manche finden in den Dörfern auch eine neue Heimat.
Filmon Tesfalem, 32, lebt schon seit sieben Jahren in Camini und mit ihm seine Frau, zwei Töchter und ein Sohn. Sie kommen aus Eritrea. Tesfalem ist in all den Jahren nur einmal weggefahren, zwei Tage nach Rom. Er will hierbleiben. „Camini ist unser Dorf geworden“, sagt er. Auch Douaa Alokla, 19, die vor vier Jahren über einen humanitären Korridor aus Syrien gekommen ist, möchte bleiben. Sie unterstützt die Genossenschaft als Übersetzerin und vermittelt bei den Gesprächen mit Neuankömmlingen.
Man trifft die beiden und viele der rund hundert Flüchtlinge aus Syrien, Marokko, Sierra Leone, Senegal oder Nigeria im Dorf, wenn man die steinernen Treppen hoch- und runterläuft, aber auch in den Werkstätten und in dem zentralen Steinhauskomplex. Hier sind die topmodernen Büros der Genossenschaft Eurocoop Jungi Mundi untergebracht, was auf Kalabresisch so viel heißt wie „Vereine die Welt“.
Rosario Zurzulo hat sie schon 1999 mit gegründet, damals als Projekt zur Eingliederung von Menschen mit Behinderung, und ist bis heute ihr Vorsitzender. Seit 2011 kümmert sich die Kooperative mit 20 Mitgliedern und derzeit 50 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen um die Aufnahme von Asylbewerbern, zumeist Minderjährige und Mütter mit Kindern, in Zusammenarbeit mit internationalen Flüchtlingsorganisationen. Auch einige deutsche Delegationen sind schon durch das Dorf gelaufen. Das Vorbild war von Anfang an Riace.
„Wir sind aber weniger politisch, eher an pragmatischen Lösungen orientiert, die alle weiterbringen“, stellt Zurzulo klar. Er will Zuflucht bieten, aber auch eine Wirtschaftsstruktur und Arbeitsplätze im Dorf schaffen. Die Projekte laufen über die Gemeinde, aber die Gebäude gehören der Genossenschaft. Damit steht sie auf solideren Beinen als die Kooperative Citta Futura von Mimmo Lucano, die für ihre Unterkünfte Miete an ausgewanderte Bewohner bezahlt. Auch für die wenigen, die im Moment bewohnt sind.
Wie früher in Riace, so wird auch in Camini gewebt, geschneidert, getöpfert und geschnitzt. Die Werkstätten dienen vor allem der therapeutischen Beschäftigung. Dabei spielt die Textilwerkstatt Ama-la eine wichtige Rolle. Sie bietet Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, und ihren Kindern Schutz und eine kreative Tätigkeit. Sie lernen weben, sticken, entwerfen und – nach alter kalabresischer Tradition – auch Ginster spinnen.
Heute sitzt Happy Felix aus Nigeria am Webstuhl. Viele Frauen ihres Landes versuchen der Frauenhändlermafia zu entkommen, aber nur wenige kommen an einem sicheren Ort wie hier unter. Die Laboratorien werden von Fachexperten betreut, aber auch von einer Psychologin. Während des Lockdown im Frühjahr 2020 produzierte die Näherei der Immigranten Gesichtsmasken, die damals rar und begehrt waren.
Touristische Highlights
Die in den Werkstätten hergestellten Stoffe, Tücher, Taschen und Keramikschalen werden vor allem an Touristen verkauft, die als Sommer- oder Tagungsgäste nach Camini kommen. Die Genossenschaft bietet ihnen Wohnungen in den antiken Steinhäusern an, die alle von Mastro Cusmano und seinen Söhnen restauriert wurden. Für sie ist die Genossenschaft die einzige Möglichkeit, Arbeit im Ort zu finden. Cusmano ist hier geboren, sein Vater war 30 Jahre lang Gastarbeiter in Deutschland. Für die Renovierungen benutzt er nur recyceltes Material aus dem Dorf, zur Dekoration auch mal alte Fahrräder. „Das ist alles meine Lebensgeschichte“, erzählt er.
Die Wohnungen und Seminarräume werden außerhalb der Sommersaison hauptsächlich von Gruppen gemietet, die sich auch dafür interessieren, wie das gemeinsame Leben der alten und neuen Dorfbewohner so funktioniert. Einige der Zimmer und Wohnungen können individuell bei Online-Reiseanbietern gebucht werden. Die italienische Agentur Viaggi Solidali organisiert einwöchige Aufenthalte mit Veranstaltungen und Exkursionen. Auf ihrer Homepage www.eurocoopcamini.com bietet die Genossenschaft selbst Ferienkurse in den Werkstätten an, zum Beispiel die Verarbeitung von Ginster oder Fotografie.
Rawda, Souvenirhändlerin
Für Reisende verlockend sind zudem das türkisfarben glitzernde Meer der ionischen Küste, das nur 15 Autominuten bergab entfernt liegt, und auf der anderen Seite eine unberührte Bergwelt zum Wandern. Und besichtigen kann man in der Gegend genug: die antike Stadt Kaulon zum Beispiel und das dazugehörige Museum.
Auch Riace hat einiges zu bieten. Vor der Küstensiedlung Riace Marina wurden im Meeresboden die berühmten Bronzi di Riace entdeckt, zwei überlebengroße Männerstatuen der Antike. Und oben im Dorf, wo einst die Welt zu Gast war, werden jedes Jahr die heilenden Heiligen Cosma und Damiano gefeiert, die angeblich aus dem Morgenland kamen. Sie sind auch Schutzheilige der Sinti und Roma, die zu den Festtagen Ende September aus ganz Italien anreisen.
Die Bronzen und die Heiligen haben Riace berühmt gemacht, aber auch Mimmo Lucano und sein globales Dorf, das eine Insel schien im lokalen Mafiasumpf. Bis 2018, als er von einem Provinzgericht angeklagt wurde. Die Vorwürfe lauteten Amtsmissbrauch, wegen der Vergabe eines Müllabfuhrauftrags im Dorf, der Schließung von zwei angeblichen Scheinehen und Begünstigung illegaler Einwanderung. All dies geschah in den Bergen der Locride, wo die Mafiaorganisation 'Ndrangheta Waffen und Kokain für ihre internationalen Geschäfte versteckt. Und wo dann einer wie Mimmo Lucano vor dem Kadi steht.
Unsichere Zukunft
Jetzt will der ehemalige Bürgermeister, der noch vor vier Jahren von der US-Zeitschrift Fortune zu einem der einflussreichsten Männer der Welt gekürt wurde, verhindern, dass das globale Dorf wieder zum verlassenen Kaff wird. In den letzten Wochen gab es tätliche Angriffe. Eine Wandmalerei mit dem Porträt eines ermordeten Anti-Mafia-Aktivisten wurde überschmiert und das Geschäft eines jungen Mannes aus Ghana, der seit vielen Jahren in Riace lebt, von Unbekannten angezündet.
Manche haben Angst, aber Rawad, die vor zehn Jahren aus Somalia gekommen ist, möchte bleiben. Seit ein paar Jahren hat sie einen Job im Souvenirladen, vor der mittelalterlichen Pforte der Stadt. Sie sitzt in ihrem dunklen Atelier und lackiert im Lampenlicht Blätter von Mini-Bäumchen aus Perlen. „Wir warten darauf, dass wir Mimmo wieder wählen können“, sagt sie.
Lucano überlegt, ob er gegen den jetzigen Bürgermeister der Lega Nord antreten soll. Bei den Regionalwahlen im April unterstützt er den unabhängigen Linken Luigi de Magistris, derzeit Bürgermeister von Neapel. „Ich muss mich noch für eine Kandidatur entscheiden“, sagt er und schaut nachdenklich drein. Die letzten Jahre haben ihm zugesetzt. Dann läuft lärmend eine Gruppe afrikanischer Kinder mit ihren Müttern auf der Piazza ein und seine Miene hellt sich auf. „Gottseidank sind sie noch da und morgen macht die Schule wieder auf. Wir haben auch freie Wohnungen für neue Gäste. Sie haben uns nicht vernichtet“, sagt er.
Riace muss weiterleben, findet Mimmo Lucano und mit ihm viele Italienerinnen und Italiener, vor allem junge Leute, die ihn auch während des laufenden Justizverfahrens in Schulen, Unis, Buchläden und Kulturzentren eingeladen haben, um über das Dorf, die Migration und die Utopie einer besseren Welt zu diskutieren. Doch vorerst gibt es praktische Probleme zu lösen, für die verbliebenen Familien müssen Mieten und Kinderärzte bezahlt werden. Wichtig ist ihm jetzt, dass es wieder mehr Leben im Dorf gibt und dass die Werkstätten und der Lebensmittelladen funktionieren. Dann können auch wieder Besucher kommen. Viele bieten Hilfe an, auch aus dem Ausland. Eine Frau aus Berlin möchte in der alten Post eine Bibliothek einrichten. „Mal sehen“, sagt Mimmo Lucano, „was der Wind so bringt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!