Regierungskrise in Großbritannien: Ein Problem namens Boris
Einst feierten britische Konservative Boris Johnson als unschlagbar. Nach diversen Party-Skandalen gilt er vielen als unhaltbar.
Vor Ort, berichtete sie, erzählten ihr die Leute, dass diese Feiern unter Boris Johnsons Führung geschahen. „Deshalb, im Interesse der Konservativen Partei und wegen der Kommunalwahlen, die im Mai bevorstehen, sollten wir es hinter uns bringen“, suggerierte sie: „Der einzige Weg ist mit einen neuen Parteiführer!“
Einzelheiten von mindestens 13 Feiern in 10 Downing Street mitten im Coronalockdown oder unter Bruch von Kontaktbeschränkungen sind inzwischen an die Öffentlichkeit geraten. Eine hohe Beamtin, Sue Gray, führt eine Untersuchung. Ihre Ergebnisse werden frühesten Ende kommender Woche erwartet. Man solle diese abwarten, hatte Boris Johnson in seiner Entschuldigung im Unterhaus letzten Mittwoch betont. Doch Gray wird nur den Sachverhalt aufzeichnen. Die Konsequenzen daraus – Strafen oder Entlassungen – sind Johnsons Sache.
Johnson soll außer sich sein, berichten britische Medien. Doch viele, wie auch Thorpe, machen den Premierminister selbst für die Partyserie verantwortlich. Seine Zukunft liegt nun in der Hand der eigenen Partei.
Forderung nach Misstrauensvotum
Am Donnerstagabend stimmte der Vorstand des konservativen Ortsverbandes Sutton Coldfield nahe Birmingham als erster einstimmig gegen Johnson. 53 Prozent aller befragten konservativen Parteimitglieder plädieren laut einer Umfrage der parteiinternen Webseite Conservative Home für Johnsons Rücktritt. Viele haben am Wochenende ihren Abgeordneten entsprechende Briefe geschrieben. Andrew Bridgen, Abgeordneter für Nordwest-Leicestershire, gab an, er habe über 1.000 E-Mails an einem Tag erhalten, zumeist Forderungen nach dem Rücktritt des Premiers.
Nun ist Bridgen offenbar einer der laut Medienberichten bis zu 35 Abgeordneten, die beim Vorsitzenden des Hinterbänklerausschusses der Partei, Graham Brady, ein Misstrauensvotum gegen Johnson gefordert haben. Wenn bei Brady mindestens 15 Prozent der Fraktion, das wären 54 Abgeordnete, schriftlich Johnsons Rücktritt fordern, muss eine Neuwahl des Parteichefs stattfinden und das heißt dann für Johnson wohl: Game Over.
Wie viel Post tatsächlich bei Brady eingegangen ist, ist Spekulation, aber Unzufriedenheit mit Johnson äußern nicht nur die, die ihn ohnehin mit Skepsis beobachten – etwa Anhänger von Theresa May oder David Cameron – sondern auch Neuzugänge, die bei den Wahlen 2019 dank Johnson Labour-Wahlkreise eroberten. Sie bangen nun um ihre Sitze.
Es scheint, als ob der alte Zauber Johnsons verpufft ist. Seine Magie war es, Brexit zu liefern und dabei Nigel Farage und Jeremy Corbyn zu verjagen. Braucht man ihn danach noch? James Forsyth, Politikchef des konservativen Wochenmagazins Spectator, das einst Boris Johnson als Chefredakteur hatte, bezeichnete vergangene Woche die Anhängerschaft Boris Johnsons als „Boris-Pragmatist“: Man wisse natürlich um Johnsons Nachteile, aber solange er Wahlsiege liefere, sei er akzeptiert – wenn nicht, dann jedoch nicht mehr.
Versprechen und Visionen
Schon lange ist Johnson für seine saloppe Art, für schräge Wortwahl und für Seitensprünge bekannt. Auch mit politischen Versprechen hat er es nicht immer ernst genommen. Seine Partei, ja das Land nahm 2019 all das in Kauf, denn Johnson, zu dessen Charakter ein mitreißender Positivismus des „Wir schaffen das“ gehört, versprach dem Land nach zehn Jahren Austerität die Vision einer neuen Blüte mit dem Brexit.
Viele wollten es glauben, denn Johnson beteuerte, in das Gesundheitssystem zu investieren und das Land aufzubauen, und tatsächlich scheut er staatliche Investitionen sowie Steuererhöhungen zu diesem Zweck nicht.
Aber dieser Tage hört niemand mehr zu, wenn die Regierung das baldige Ende der pandemiebedingten Maßnahmen verkündet oder, dass die Wirtschaft wieder den Vor-Corona-Stand erreicht hat. Stattdessen gibt es immer wieder Enthüllungen zu Feiern während der Pandemie in 10 Downing Street. Diese Eskapaden ziehen die Konservativen nach unten. Am Sonntagmorgen wurde ein Foto von Boris Johnsons Gattin Carrie bekannt, auf dem sie am 17. September 2020, als noch Abstandsregeln galten, eine Bekannte eng umarmt. Sie entschuldigte sich inzwischen für ihre „kurzfristige Unaufmerksamkeit“.
Durchmogeln mit Sofortmaßnahmen
Die einzige Hoffnung der Konservativen ist, dass Johnson mit Hilfe seines spendablen Finanzministers Rishi Sunak vielleicht doch noch die Kurve kriegt. Die Sunday Times berichtet von einer ganzen Liste bevorstehender Sofortmaßnahmen: Steuervergünstigungen, Einfrieren der TV-Gebühren, schnellerer Abbau des pandemiebedingten Rückstaus bei Krankenhausbehandlungen, mehr Sozialausgaben, das Ende aller Covid-19-Regeln, vielleicht sogar die Küstenkontrolle durch das Militär, um Flüchtlinge aus Frankreich zu stoppen. Obendrein soll es einen gründlichen Kehraus in 10 Downing Street geben. Zudem wird das 70. Jubiläum der Queen vorbereitet.
Sollte Johnson sich tatsächlich noch einmal durchmogeln können, ist der nächste Test bereits in Sichtweite. Es sind die Kommunalwahlen im Mai, und sollten die Konservativen da miserabel abschneiden, könnte die Partei doch noch entscheiden, sich für die Parlamentswahl 2024 neu aufzustellen – gehandelt als neue Chefs werden Finanzminister Rishi Sunak, Außenministerin Liz Truss, Aufbauminister Michael Gove oder Exgesundheitsminister Jeremy Hunt, der 2019 gegen Johnson bei der Wahl von Theresa Mays Nachfolger unterlag.
Auch Labourführer Keir Starmer, der derzeit ein seltenes Umfragehoch für seine Partei genießt, weiß, welche Werte nun gefragt sind. Auf der Jahrestagung des sozialdemokratischen Think Tanks Fabian Society bezeichnete Starmer am Samstag Johnson als einen Premierminister, der seine moralische Autorität verloren habe. „Boris Johnson vergiftet den Brunnen der Demokratie, indem er schamlos die Regeln bricht und zahlreiche Leute mit ihm in den Dreck zieht“, behauptete er. Die Konservativen müssten nun tun, was von ihnen erwartet werde – „im Interesse der Nation.“
Je nachdem, was noch geschieht, werden konservative Abgeordnete genau das tun – sei es für Nation und Königin, oder aus Eigeninteresse am politischen Überleben.
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