Regierungskrise in Brasilien: Archaische politische Kultur
Anpassung, Wirtschaftskrise, Korruption: Warum Lulas Arbeiterpartei gerade weggeputscht wird und was sie selbst dazu beigetragen hat.
Im Parlament von Brasília wurde mit einem grotesken Spektakel ein Amtsenthebungsverfahren gegen Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff eingeleitet, das KritikerInnen als „kalten Putsch“ bezeichnen. Unter dem fadenscheinigem Vorwand der Haushaltstricksereien, die nicht nur in Brasilien gang und gäbe sind, wird Rousseff der politische Prozess gemacht. 367 Abgeordnete stimmten gegen sie, im Namen Gottes und der Familie. Oder: für das Agrobusiness und einen Folterer aus der Militärdiktatur. Gegen die meisten von ihnen wird wegen Korruption ermittelt.
Was ist los in Brasilien? Ähnlich wie 2012 in Paraguay, doch nun mit Ansage und über Monate hinweg, spielt sich hier ein parlamentarischer Staatsstreich ab, im abgestimmten Zusammenspiel der alten Machteliten aus Politik, Globo-Medienkonzern, den führenden Wochenmagazinen und Tageszeitungen sowie Unternehmern und Teilen der Justiz. Selbst der oberste Gerichtshof hält das Verfahren gegen Rousseff mehrheitlich für legal. Der Operettenputsch gegen Rousseff ist ein zivilisatorischer Rückschritt mit unabsehbaren Folgen.
Tragisch ist das vor allem, weil Lula und die PT eine sozialdemokratische Politik des Klassenausgleichs versuchten – ganz anders als etwa Hugo Chávez in Venezuela oder die Kirchners in Argentinien. Und weil die ethisch untadelige Rousseff 2011, zu Beginn ihrer Amtszeit, vehementer gegen korrupte Minister vorging als alle ihre Vorgänger zusammen.
Groteskes Spektakel
2002 gelobte Lula gegenüber dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und den Finanzmärkten die Einhaltung geltender Verträge – und gewann wenig später die Präsidentschaftswahl im vierten Anlauf. Aber anstatt die Aufbruchstimmung dazu zu nutzen, um beherzt Strukturreformen anzugehen, entschied er sich für einen konservativen wirtschaftspolitischen Kurs.
Die Früchte des Rohstoffbooms wurden etwas gerechter verteilt, aber die Reichen mussten nichts abgeben. Statt Umverteilung wollte Lula Wachstum um jeden Preis und Konsum für alle. Die PT sei eine Partei der Mitte geworden, verbürokratisiert, verbürgerlicht, lautete damals eine gängige linke Kritik. Anstatt das System zu reformieren, ging sie darin auf.
2005 saß Lula den ersten großen Schmiergeldskandal aus, bei dem seine rechte Hand José Dirceu Monatszahlungen an konservative Parlamentarier organisierte. Eine Rückbesinnung der PT auf die hohen ethischen Standards, die sie als Oppositionspartei proklamiert hatte, unterband er. Teile der Mittelschicht wandten sich damals enttäuscht ab. Doch mit Charisma und handfesten Sozialprogrammen erweiterte Lula seine Massenbasis bei den Armen.
Der halbstaatliche Erdölkonzern Petrobras, ein Quell der Korruption, wurde schamloser ausgeschlachtet als je zuvor. Immer neue Enthüllungen zeigen, wie nicht nur, aber eben auch Millionenbeträge an die PT flossen, ebenso bei anderen Megaprojekten wie dem volkswirtschaftlich und ökologisch widersinnigen Amazonas-Staudamm Belo Monte, den Lula und Rousseff gegen sämtliche Widerstände und unter Beugung des Rechts durchsetzten.
300 Gauner im Kongress
Vetternwirtschaft und Selbstbedienung blieben auch im Fußballbetrieb ungebrochen, den Lula zunächst noch reformieren wollte. Schon bald war er ein Herz und eine Seele mit dem Fußballpaten Ricardo Teixeira. Brasilien bekam die WM, und Lulas Verein Corinthians São Paulo ein neues Stadion, das der Skandalmulti Odebrecht mit günstigen Staatskrediten baute. Der damalige Corinthians-Präsident ist heute PT-Abgeordneter in Brasília.
Der Machterhalt um seiner selbst willen wurde immer wichtiger. „Im Kongress sitzt eine Mehrheit von rund 300 Gaunern, die nur ihre eigenen Interessen vertreten“, hatte Lula schon 1993 erkannt. Heute sind es wohl noch ein paar mehr, die man den reaktionären BBB-Fraktion zurechnen darf. BBB: Bulle, Bibel und Blei, also Agrar-, Sekten- und Waffenlobby. Ihre Gesetzesvorhaben richten sich gegen Arbeiter, Frauen, Schwarze, Indigene, die LGBT-Community – und die Umwelt. Doch grundlegende politische Reformen versäumte Lula, als er noch Rückenwind hatte.
Und so ist auch die Hybris der beiden PT-Staatschefs jetzt eine Ursache der Krise. Auf dem Gipfel seiner Popularität, als er Fußball-WM und Olympische Spiele nach Brasilien holte, galt Lula international als Superstar. In bester Caudillo-Manier erkor er per Fingerzeig die beratungsresistente Technokratin Rousseff zu seiner Nachfolgerin.
Umgeben von Ja-Sagern
Rousseff hingegen war unfähig, in der Schlangengrube Brasília zu bestehen. Gerade bei ungünstigen Mehrheitsverhältnissen im Parlament – zu ihren besten Zeiten hielt die PT 18 Prozent der Sitze, heute sind es noch 12 – ist Dialog die Voraussetzung für Erfolg. Doch anstatt dialogisch Politik zu machen, verschanzte sich die Staatschefin in ihrem Palast mit einer Schar bedingungslos Getreuer und ihren Aktenordnern.
Landlosenbewegung und Zivilgesellschaft ließ sie links liegen. Agrobusiness, Bergbau-, Erdöl- und Holzkonzerne durften ihre kriminelle Offensive gegen die Territorien der Indigenen und anderer traditionell lebender Gemeinschaften ungestört fortsetzen.
Auf die Massenproteste 2013, die Verbesserungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Nahverkehr einforderten, fand sie keine Antwort. 2014 wäre Lula gerne wieder selbst angetreten, doch die Amtsinhaberin wollte nicht weichen. Mit linker Rhetorik gewann sie die Stichwahl auf der Zielgerade – um einen als neoliberal geltenden Banker zum Finanzminister zu ernennen. Der Wahlbetrug war perfekt und eine tiefe Rezession infolge der Sparpolitik die Folge.
Rechte Hegemonie
Ein Witz, wenn Wirtschaftsliberale Rousseffs „unsolide“ Haushaltspolitik nach Ende des Rohstoffbooms dafür verantwortlich machen. Doch Rousseffs Popularität stürzte ins Bodenlose.
Die Rechte hat inzwischen die Hegemonie auf den Straßen übernommen. Der Hass auf die PT wird in den sozialen Netzwerken und anderswo von jenem Fünftel der Bevölkerung geschürt, bei dem Sklavenhaltermentalität, diktatorische Reflexe und Sehnsucht nach Miami eine ungute Mischung eingehen.
Sich mit Teilen der alten Eliten zu verbünden, um ein modernes, soziales Brasilien aufzubauen – diese Hoffnung von Lula, Dilma Rousseff und dem Mehrheitsflügel der PT ist nicht aufgegangen. Umstritten war der antinordamerikanische Impuls, dem 2005 die gesamtamerikanische Freihandelszone Alca zum Opfer fiel. Stark waren jedoch die Kräfte der Beharrung. Der Weg des scheinbar geringsten Widerstands, die Anpassung an die archaische politische Kultur Brasiliens, aber auch an den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts haben die Arbeiterpartei ins Desaster geführt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour