Referendum in Australien: Australiens Indigene „am Boden zerstört“
In Australien ist der Versuch gescheitert, Aborigines eine größere Mitsprache bei der Gestaltung von Gesetzen zu geben, die sie besonders betreffen.
Der führende Aboriginal-Aktivist Thomas Mayo fasste die Reaktion vieler Indigener zusammen, als er im australischen Fernsehen meinte: „Ich bin am Boden zerstört“. Die Geschichte werde mit den Gegnern der Vorlage „hart ins Gericht gehen“. Verschiedene prominente Aboriginal-Aktivisten hatten im Vorfeld des Entscheids gemeint, sie würden im Fall eines Nein ihren zum Teil jahrzehntelangen Kampf für mehr Rechte aufgeben. Der indigene Anwalt Noel Pearson meinte, er werde nach einem solchen Resultat „für immer verstummen“.
Premierminister Anthony Albanese appellierte in einer ersten Reaktion an die indigenen Australier: „Bleiben Sie zuversichtlich im Wissen, dass sie geliebt werden“ meinte er, den Tränen nahe.
In Australien herrscht Stimm- und Wahlpflicht. Nachdem vor ein paar Monaten Umfragen auf eine Annahme der Vorlage hingedeutet hatten, begann eine von den konservativen Oppositionsparteien angeführte Kampagne sukzessive die Argumente der Befürworter zu untergraben. Die Gegner streuten mit wachsender Intensität Zweifel an Sinn und Zweck einer sogenannten „Voice To Parliament“ (Stimme im Parlament) für Aborigines und Bewohner der Torres-Meeresstrasse.
Unter anderem behaupteten sie, das Forum würde den Ureinwohnern mehr Macht und Einfluss auf die Politik geben als „gewöhnlichen“, nicht-indigenen Australiern. Selbst vor erzwungenen Landrückgaben und vor Mitspracherechten für Aborigines beim Abbau von Rohstoffen warnten konservative Politiker und ihnen nahestehende Medien. Solche Behauptungen wurden von unabhängigen Experten widerlegt. Die Körperschaft hätte einzig eine beratende Funktion gehabt und keine gesetzgebende, bestätigten Juristen. Auch wären die endgültige Form und Zusammensetzung des Gremiums im Falle einer Annahme der Vorlage vom Parlament bestimmt worden, nicht von den Ureinwohnern selbst.
Die Rhetorik der Gegner war zeitweise so aggressiv, dass Aboriginal-Organisationen einen Anstieg rassistisch motivierter Anfeindungen meldeten. Gleichzeitig behauptete Oppositionsführer Peter Dutton, die Vorlage und ihre Befürworter würden „das Volk spalten“.
Laut dem Vorschlag hätte das Gremium aus Vertretern verschiedener indigener Gemeinden das Parlament bei der Gestaltung von Gesetzen beraten sollen. Es wäre primär um Fragen gegangen, welche für die ersten Bewohner des Kontinents von besonderer Wichtigkeit sind: die in vielen Aboriginal-Gemeinden schlechte Gesundheitsversorgung, dramatische Ausbildungsdefizite, Armut, Wohnraummangel. Befürworter und unabhängige Akademiker weisen auf Beispiele in anderen Ländern hin, wo stärkere Mitbestimmung durch die direkten Betroffenen zu einer deutlichen Verbesserung der sozialen und gesundheitlichen Lebensbedingungen indigener Menschen beitrugen.
Die rund 900.000 Aborigines und indigenen Bewohner der Torres-Meeresstraße zwischen Australien und Papua-Neuguinea gehören unter den 26 Millionen Australiern zu den am stärksten benachteiligten Gruppen. Sie sterben im Durchschnitt acht Jahre früher als nicht indigene Australier und leiden unter starker Diskriminierung. In vielen Aboriginal-Gemeinden fehlt es an Dienstleistungen im Gesundheit- und Ausbildungsbereich, die für Weiße Australier selbstverständlich sind. Entscheide über Unterstützungsmaßnahmen werden oft von nicht-indigenen Beamten getroffen, ohne Konsultation mit den Betroffenen. Kritiker sprechen von einem „kolonialen“ und „paternalistischen“ System.
Die Verankerung der „Stimme“ im Grundgesetz hätte auch bedeutet, dass die Ureinwohner des Kontinents zum ersten Mal überhaupt in der Verfassung erwähnt worden wären. Im Gegensatz etwa zu Neuseeland hat Australien keinen Vertrag mit seiner indigenen Bevölkerung. Das Grundgesetz war 1901 in Kraft getreten, 113 Jahre nach Beginn der Weißen Besiedlung des Kontinents – oder „Invasion“, wie viele Ureinwohner die Ankunft britischer Strafgefangener und ihrer Bewacher nennen.
Erst seit 1967 sind Indigene überhaupt als Bürger anerkannt, auf einem Kontinent, den sie seit mindestens 65.000 Jahren bewohnen. Und erst 1992 beendete ein Gericht den Mythos, Australien sei vor der Ankunft der Weißen „Terra Nullius“ gewesen – unbewohntes Niemandsland.
Vertreter der Ureinwohner hatten darauf hingewiesen, die Referendumsvorlage sei ein Weg, „um unsere Menschen zu ermächtigen und ihren rechtmäßigen Platz in unserem eigenen Land zu erhalten“, so die indigene Rechtsprofessorin Megan Davis. Das Referendum war das Ergebnis jahrelanger Verhandlungen zwischen den verschiedenen indigenen Nationen und Stämmen, mit ihren eigenen Sprachen, Kulturen und Riten. Die Gespräche endeten im sogenannten „Uluru-Statement aus dem Herzen“, das die australische Bevölkerung „in Liebe“ dazu einlud, die ersten Bewohner Australiens nach über einem Jahrhundert des Wartens im Grundgesetz anzuerkennen.
Premierminister Anthony Albanese hatte die Nation noch am Samstagmorgen dazu aufgerufen, Ja zu stimmen. Es gehe darum, einen Fehler der Geschichte zu korrigieren und den Ureinwohnern des Kontinents gegenüber Respekt zu zeigen. „Ausgerechnet in dieser Woche, in der es so viel Hass gibt in der Welt, ist dies eine Gelegenheit für Australier, Liebenswürdigkeit zu zeigen“. Es gehe darum, wie sich das Land als Nation sehe, „aber auch darum, wie uns die Welt sieht“, so der Regierungschef in Sydney.
Albanese war das Referendum nicht nur persönlich ein wichtiges Anliegen. Er löste damit ein im Mai letzten Jahres gemachtes Wahlversprechen ein.
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