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Rechtsstreit zwischen EU und PolenWer das letzte Wort hat

Ob EU-Recht oder nationales Recht vorgeht, wird nicht nur in Polen kritisch hinterfragt. Die wichtigsten juristischen Fragen und Antworten.

Andreas Voßkuhle nach der Urteilsverkündung im Mai 2020 gegen die EZB und den EuGH Foto: Sebastian Gollnow/picture alliance

Hat EU-Recht immer Vorrang vor dem nationalen Recht der EU-Mitgliedstaaten?

Das ist seit Jahrzehnten umstritten. Die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH) gehen von einem absoluten Vorrang des EU-Rechts aus. Viele nationale Verfassungsgerichte lehnen jedoch einen unbedingten Vorrang des EU-Rechts ab. Dazu gehört nicht nur das polnische Verfassungsgericht, sondern auch das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG), an dem sich wiederum viele andere Gerichte in den EU-Staaten orientieren.

Was sagen die EU-Verträge?

Dort ist der Vorrang des EU-Rechts bis heute nicht geregelt. Die Annahme, dass EU-Recht immer gegenüber nationalem Recht vorgeht, beruht ausschließlich auf Urteilen des EuGH, der dies seit 1964 vertritt.

Wie argumentiert der EuGH?

Er erklärt, dass eine Rechtsgemeinschaft wie die EU (und damals die EG) nur funktionieren kann, wenn das gemeinschaftliche Recht dem nationalen Recht vorgeht. Der Vorrang muss deshalb auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht gelten.

Wie argumentiert das BVerfG?

Das EU-Recht gehe nur in den Bereichen vor, in denen die EU-Staaten der EU eine Kompetenz eingeräumt haben. Das BVerfG reklamiert für sich die Macht, zu entscheiden, ob im konkreten Fall der Vorrang des EU-Rechts gilt oder ob ein EU-Akt in Deutschland unwirksam ist.

Was prüft das BVerfG genau?

Das BVerfG prüft erstens, ob die EU-Organe jenseits ihrer Kompetenzen („ultra vires“) gehandelt haben. Und zweitens prüft es, ob ein EU-Rechtsakt die Identität des Grundgesetzes verletzt. Zur Identität des Grundgesetzes gehören etwa die Demokratie, der Rechtsstaat, die Menschenwürde und die deutsche Staatlichkeit.

Ist die Rechtsprechung des BVerfG gefährlich für die EU?

Potenziell ja, weil Karlsruhe davon ausgeht, dass nationale Verfassungsgerichte in Kompetenzkonflikten das letzte Wort haben – und nicht der EuGH. Allerdings hat das BVerfG 2010 im Honeywell-Beschluss versprochen, seine „Reservekompetenz“ nur in Ausnahmefällen einzusetzen, und zwar nur, wenn eine Kompetenzüberschreitung der EU-Organe „offensichtlich“ ist und zu einer „strukturell bedeutsamen Verschiebung“ der Kompetenzen von Deutschland zur EU führen würde.

Wie oft hat das BVerfG bereits EU-Recht für unwirksam erklärt?

Nur einmal, im Mai 2020 im Streit um das Anleihenankaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB). Damals hat das BVerfG sowohl das Handeln der EZB als auch ein Urteil des EuGH für kompetenzwidrig („ultra vires“) erklärt. Allerdings hat sich das BVerfG dabei wohl nicht an seine eigenen Vorgaben gehalten, weil die Kompetenzverletzung der EU-Organe nach Ansicht vieler Ju­ris­t:in­nen weder offensichtlich war noch zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge führte.

Wie viele Gerichte in anderen EU-Staaten haben ebenfalls Vorbehalte gegen den generellen Vorrang des EU-Rechts?

In einer BVerfG-Auflistung vom Juni 2021 werden die Verfassungs- oder Höchstgerichte von Belgien, Dänemark, Estland, Frankreich, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Polen, Spanien und Tschechien genannt.

Ist das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober also gar nicht so außergewöhnlich?

Doch. Das polnische Verfassungsgericht geht viel weiter als andere Verfassungsgerichte. Es erklärte mehrere Bestimmungen der EU-Verträge schon deshalb für verfassungswidrig, weil sie EU-Recht einen Vorrang gegenüber der polnischen Verfassung geben. Dieser Vorbehalt stellt die EU-Rechtsordnung also nicht punktuell, sondern sehr weitgehend infrage.

Hat die EU die Kompetenz zur Kontrolle, ob nationale Gerichte unabhängig sind?

Das ist ebenfalls umstritten. Der EuGH hat sich diese Kompetenz 2018 in einer strategischen Entscheidung (zur Justiz in Portugal) selbst zugebilligt, obwohl sie sich nicht explizit aus den EU-Verträgen ergibt. Polen lehnt diese Rechtsprechung des EuGH ab. Überwiegend wird die EuGH-Rechtsfortbildung jedoch in der Rechtswissenschaft (angesicht der Probleme Polens und Ungarns mit der Rechtsstaatlichkeit) bejaht.

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8 Kommentare

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  • Unbeantwortet bleibt hier allerdings die Frage wie ein EU-Recht funktionieren soll, dass dem jewiligen nationalen Recht nachgeordnet ist bzw. welche Daseinsberechtigung es dann überhaupt noch hat. Um letztlich unverbindliche Empfehlungen zu formulieren braucht es einen Apparat wie in Brüssel nicht. Immerhin böte eine solches Primat nationalen Rechts auch dem UK wieder eine Beitritsperspektive, die unerwünschten Teile des EU-Reglements ließen sich dann ja per nationaler Gesetzgebung überschreiben. Gleiches wäre etwa für Russland oder die Türkei denkbar wenn sie die Kompetenzen für Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung per Verfassung in Moskau bzw. Ankara verorten.

  • Die EU in ihrer jetzigen Form wird halt nur noch über Geld zusammengehalten. Alle Kompromisse müssen erkauft werden, und wenn die Regeln d. EU einem Land nicht passen, dann startet es irgendwelche Grundsatzstreitereien.

    Dass in einer Staatengemeinschaft mit legislativen Rechten wie der EU der EUGH das höchste Gericht sein muss in allen Dingen, welche die Staatengemeinschaft betreffen, ist eine Binsenweisheit, und jegliche Verneinung dessen ist auch gleichzeitig eine Verneinung der Rechte d. EU an sich.

    Das Problem der EU ist halt nur dass sie nix Halbes und nix Ganzes ist. Man hatte damals unter Schröder verpasst den logischen nächsten Schritt zur Verfassung zu machen, und behielt stattdessen dieses Bürokratiemonstrum, dass zwar auf vieles in den Nationalstaaten Einfluss nehmen kann, aber halt nicht auf alles, wie ein Staat es könnte. Dadurch fehlt es der EU an Durchsetzungskraft, nach innen und nach außen.

  • Noch ist Polen nicht verloren.

  • Das ich mal einen derart sachlichen Artikel in der TAZ lesen kann? Chapeau.

  • Rechtsfortbildung - geiles Wort.

    Aber ist es in Demokratien mit Gewaltenteilung gut wenn sich einzelne Institutionen selbst ermächtigen? So ganz koscher ist das alles nicht! Nicht das ich Polens Haltung gut finde... Aber auch die EU ist nicht nur gut.

  • Unbeantwortet bleibt hier allerdings die Frage wie ein EU-Recht funktionieren soll, dass dem jewiligen nationalen Recht nachgeordnet ist bzw. welche Daseinsberechtigung es dann überhaupt noch hat. Um letztlich unverbindliche Empfehlungen zu formulieren braucht es einen Apparat wie in Brüssel nicht. Immerhin böte eine solches Primat nationalen Rechts auch dem UK wieder eine Beitritsperspektive, die unerwünschten Teile des EU-Reglements ließen sich dann ja per nationaler Gesetzgebung überschreiben. Gleiches wäre etwa für Russland oder die Türkei denkbar wenn sie die Kompetenzen für Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung per Verfassung in Moskau bzw. Ankara verorten.

  • Danke. Hauptsache es wird nicht Mode:



    Daß Journalisten sich dreist berühmen -



    Mit Vossibär mal ne Salatsauce angerührt zu haben! Ansonsten.



    &



    Na Mahlzeit & ein Hoch auf den EuGH!



    Der alleinige intakte Motor der EU - 🙀🧐 - Newahr.



    Normal Schonn •



    ——-



    & mal Butter bei die Fische => Yvonne Ott - Karlsruhe - a RiRa -



    betrifftjustiz.de/...e/BJ%20141_Ott.pdf



    “Gegenseitiges Vertrauen im europäischen



    Rechtsraum



    Vortrag auf dem Richterratschlag in Frankfurt- Höchst am 2. November 2019



    Dr. Yvonne Ott ist seit Novem- ber 2016 Richterin des Bun- desverfassungsgerichts. Im Ersten Senat ist sie unter anderem für das Recht der freien Berufe, das Steuer- und das Mietrecht zuständig. Zuvor war sie Richterin am Bundes- gerichtshof und dort Mitglied des 2. Strafsenats.



    Mein Thema ist in die Zukunft gerichtet und hat gleichzeitig aber auch etwas von Wunschdenken. Ich spreche vom gegenseitigen Vertrauen und der gegen- seitigen Anerkennung im Rechtsraum der Europäischen Union – von der An- nahme, dass sich einerseits alle (noch) 28 Mitgliedsstaaten vertrauen können, wenn es um Gewährleistung von Grund- rechten und rechtsstaatlichen Verfahren geht, und dass deshalb andererseits jeder Mitgliedsstaat rechtliche Akte des Ande- ren anerkennt, also vollstreckt, umsetzt, aufgrund dessen ausliefert, ohne – und dies ist das Entscheidende – eine vertiefte eigene rechtliche Prüfung vorzunehmen.…“



    (Die Kollegin leitete ihren Vortrag - die anschließende Diskussion - charmant mit Hinweis ein: Sie gehöre dem ggfls zuständigen Senat nicht an.



    Könne also “unbeschwert aufspielen!“;)



    Spannend - 🧐 - Indeed

  • Der Europäische Gerichtshof will einerseits befugt sein, über die Unabhängigkeit der Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten zu entscheiden, andererseits aber sollen nach seiner Auffassung diese Verfassungsgerichte bei der Frage, ob EU-Recht gegen die Verfassung des jeweiligen Mitgliedsstaats verstößt, nichts zu melden haben. Wenn ein Verfassungsgericht aber nichts zu entscheiden hat, soweit es EU-Recht betrifft, dann nützt auch die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts nichts. Und wenn die EU Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedsstaaten führt, weil deren Verfassungsgerichte die Frage des Verhältnisses zwischen Verfassungsrecht und EU-Recht anders beurteilen als der EuGH, dann stellt sich die Frage, wie die Regierungen der Mitgliedsstaaten die "Vertragsverletzung" vermeiden sollen, wenn die Verfassungsgerichte doch "unabhängig" sein sollen. Das ist alles nicht stimmig. Die Rechtsprechung des EuGH hebelt die Verfassungen der Mitgliedsstaaten aus. Die EU-Verträge geben das aber nicht her. Es gibt übrigens nicht mal eine EU-Verfassung, weil die vorgelegte EU-Verfassung bei Volksabstimmungen gescheitert ist.