Rechtsruck und Familie: „Mama, es reicht!“
Seine Mutter schickt ihm rassistische Whatsapp-Nachrichten, seit Jahren hetzt sie gegen Einwanderer. Wie soll Tom Vesterhold damit umgehen?
E in Montag, viele Wochen bevor das Coronavirus das Land lahmlegt. Noch ist es ein guter Tag. Tom Vesterhold sitzt an seinem Schreibtisch in der taz-Redaktion, durch die Scheiben scheint die Sonne. Vesterhold, der in Wirklichkeit anders heißt, hat ein schönes Wochenende mit seiner Frau und den beiden Kindern verbracht, jetzt redigiert er einen Text, an dem es nicht viel zu tun gibt. Dann macht es „ping“, das Handy zeigt eine neue WhatsApp-Nachricht an. Von „Mama“, ist auf dem Gerät zu lesen. Vesterhold zuckt zusammen.
Es ist ein Video des Bloggers Peter Weber. „Mir langen die deutschen Straftäter, ich brauche da nicht noch jemand, der bei uns Schutz sucht, und wir müssen vor denen Schutz suchen“, sagt der graumelierte Bauunternehmer aus der Nähe von Nürnberg. Er hält einen angeblichen Leistungsbescheid in die Kamera: eine Flüchtlingsfamilie mit sieben Kindern, „die noch nie in das System eingezahlt hat“. Sie bekomme monatlich 3.916,83 Euro netto, sagt Weber und grient. Dazu kämen noch Krankenversicherung und Miete.
„Wie soll ich das meinen Mitarbeitern vermitteln?“, fragt Weber. Die würden trotz harter Arbeit viel weniger bekommen. Er halte „diese Toleranz für krankhaft“. Und: „Wenn mich dann jemand als Rassist oder ausländerfeindlich bezeichnet, dann muss ich sagen: Damit kann ich gut leben.“ Tom Vesterholds Mutter hat nur den Link zu dem Film geschickt, ohne Kommentar.
Schon wieder, denkt ihr Sohn. Der Vorwurf, die deutschen Behörden zahlten Flüchtlingen mehr als Hartz-IV-Empfängern, ist uralt und voller Fehler, wenn nicht faustdicker Lügen. Vesterhold schaut sich die Facebook-Seite des Bauunternehmers an: 110.000 Follower haben den Post gesehen. Wie kann es sein, dass nun auch er seine Zeit mit dieser Hetze verbringen muss, fragt sich Tom Vesterhold. Dass seine Mutter – und so viele andere – das alles nicht nur glauben, sondern auch noch weiterverbreiten?
Er ruft eine Kollegin an, die hauptsächlich über Rechtspopulismus schreibt: Was macht man mit solchen Posts? Wie reagiert man darauf, wenn man sie von der eigenen Mutter bekommt? Wie ändert man das?
Gemeinsam entscheiden sie sich für ein Experiment. Vesterhold sucht sich Hilfe in der Auseinandersetzung mit seiner Mutter, die Kollegin begleitet ihn dabei. So entsteht dieser Text, eine Mischung aus journalistischer Beobachtung und den Schilderungen und Gedanken Vesterholds. Weil diese sehr persönlich sind, bleibt sein echter Name anonym, genau wie der seiner Mutter. So soll die Familie geschützt werden.
Es ist ja nicht das erste Mal, dass Margarete Vesterhold ihrem Sohn Nachrichten zukommen lässt, die direkt von der AfD stammen könnten. Seit mindestens drei Jahren geht das so. Mal ist es ein Post über libanesische Familienclans, mal ein Video über den angeblichen „Selbstmord Europas“ durch zu viele Einwanderer oder eine Meldung von einer „Gruppe der informierten Bürger“: „Ungarischer Geheimdienst: Tausende Migranten bereiten Bürgerkrieg in Deutschland vor.“
Dazwischen schickt Margarete Vesterhold ihrem Sohn, Fotos der Enkel oder Tierbilder, um sie den Kindern zu zeigen. Dann kommt wieder ein Fake-Zitat von Aydan Özoğuz (SPD), der ehemaligen Migrationsbeauftragten der Bundesregierung: „Dass Asylbewerber kriminell werden, das ist einzig und allein die Schuld der Deutschen, weil deren Spendenbereitschaft sehr zu wünschen übrig lässt.“ Oder ein angeblicher Spruch von Sieglinde Frieß, einer grünen Bundestagsabgeordneten: „Ich wollte, dass Frankreich bis zur Elbe reicht und Polen direkt an Frankreich grenzt.“
Gibt sie den Hass an die Enkel weiter?
Ist doch alles Quatsch, Mama, könnte ich sagen. Fake News, Mama, rassistischer Quark. Es ist doch anders, als es diese Posts vermitteln wollen, alles gut gegangen bei dir – und auch in Deutschland. Jemand versucht, dich zu manipulieren. Du bist jetzt 72 Jahre alt – und es geht dir und uns verdammt gut, trotz angeblicher „Flüchtlingsschwemme“ oder „Asylantenhorden“. Diese Menschen fliehen vor Krieg und Verfolgung, Terror und bitterster Armut nach Europa, Mama. Viele haben ein Recht auf Asyl. All das könnte ich sagen. Will ich aber nicht mehr.
„Das kannst du doch nicht einfach so durchgehen lassen“, sagt Vesterholds Frau, wenn so eine Nachricht kommt. „Du musst mit ihr reden! Das geht so nicht.“ Sie sorgt sich, dass Margarete Vesterhold zur AfD abdriftet. Und was, wenn sie den ganzen Hass und die Verachtung an die Enkelkinder weitergibt?
Was weiß ich, was Aydan Özoğuz wirklich gesagt hat? Und was Sieglinde Frieß? Ich habe anderes zu tun, als diese absurden Pöbeleien zu widerlegen. Und ich habe Mama schon so oft gesagt, dass sie mich mit dem rechten Murks nicht behelligen soll. Wir haben uns schon so oft über Ausländer oder Flüchtlinge gezofft. Über ihr Menschenbild. Ihre sinnlose Angst vor dem Fremden. Knallharte Streite – und total sinnlose dazu. Die Frau ist unbelehrbar. Ich will das nicht schon wieder. Und ich habe auch Angst vor dem Krach. Das bringt doch nix. Die ändert sich eh nicht mehr.
Widerspricht Vesterhold, ist der Streit da. Ohne dass seine Mutter einen Millimeter von ihrem Standpunkt abrückt. Am Ende bleibt nichts als Geschrei. Wenn er sich nicht zu den „Nazi-Parolen“ – so nennt es Vesterholds Frau – äußert, ist Ruhe. Deshalb hat er zuletzt immer weniger dazu gesagt. Die Parolen seiner Mutter ärgerten ihn dann zwar, verhallten aber im Nichts.
Die Vesterholds sind mit diesem Konflikt nicht allein. Ein rassistischer Spruch von Opa beim Spaziergang, ein homophober Witz bei Mutters Geburtstag, das gehört in vielen Familien zum Alltag. Und dazu die Fragen mancher Angehörigen: Sag ich was oder gehe ich darüber hinweg? Ist das noch eine Meinung, die mir nicht gefällt, die ich aber aushalten muss? Oder muss ich jetzt widersprechen – und die Stimmung killen?
In den vergangenen Jahren hat sich der gesellschaftliche Diskurs verändert. Oft schleichend, manchmal aber auch mit einem Paukenschlag. Einer davon war Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“, der vor zehn Jahren auf den Markt kam. Schnell wurde die muslimfeindliche Schrift zu einem der meistverkauften Sachbücher der bundesdeutschen Geschichte. Dinge, die hierzulande im öffentlichen Diskurs marginalisiert schienen, sind nach und nach wieder offen sagbar geworden. Und laut. Rassistische, antisemitische Einlassungen, homophobe und sexistische Sprüche, menschenfeindliche Äußerungen.
Die AfD hat eifrig daran mitgewirkt – und spaltet die Gesellschaft weiter. Der Riss geht durch viele Familien. Das hat selbst Alexander Gauland, Fraktionschef der AfD im Bundestag, zu spüren bekommen. In einem Interview berichtete er vor einigen Monaten, ein Teil der Familie habe mit ihm gebrochen. „Fast die ganze Verwandtschaft meiner Frau lehnt die AfD vollständig ab. Das Haus wird nicht mehr betreten.“
Den klaren Bruch kann man im Fall von Gaulands Verwandtschaft für die richtige Konsequenz halten. Aber Margarete Vesterhold ist nicht Alexander Gauland. Sie ist noch nicht einmal in der AfD, auch wenn die Sprüche dazu passen würden. Und Tom Vesterhold will keinen Bruch mit seiner Mutter, schon wegen seiner Kinder nicht, denen er die Oma nicht nehmen will.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Als Vesterhold nach Unterstützung sucht, stößt er auf den Verein „Kleiner Fünf“. Dessen Ziel: Menschen zu motivieren, gegen Rechtspopulismus aktiv zu werden, die Sprachlosigkeit zu überwinden. Das Konzept von „Kleiner Fünf“, gerade für den privaten Bereich, heißt „radikale Höflichkeit“. Es ist der Versuch, mit Familie und FreundInnen im Austausch zu bleiben – auch über heikle Themen. Klar zu sprechen, aber so, dass man sich nachher noch in die Augen schauen kann. Könnte passen, denkt Vesterhold.
Doch es braucht noch einige weitere rechtspopulistische Nachrichten seiner Mutter, bis er per Mail bei dem Verein um einen Termin bittet.
Wenig später sitzt er in einer ehemaligen Fabriketage in Berlin-Kreuzberg, zweiter Hinterhof, erster Stock. Ein weiß getünchter, karger Besprechungsraum in einem Co-Working-Space. Hier hat sich „Kleiner Fünf“ eingemietet. Auf dem Tisch stehen Kaffee und Wasser. Gegenüber von Vesterhold haben zwei TeamerInnen des Vereins Platz genommen.
„Wichtig ist: Es gibt nicht die eine Strategie“, sagt Philipp Steffan, Anfang 30, wuschelige Kurzhaarfrisur und Dreitagebart. „Wir wollen herausfinden, was dir wichtig ist. Wo sind deine Grenzen, die überschritten werden? Und dann überlegen wir gemeinsam, wie man vorgehen kann.“
„Kleiner Fünf“ ist ein spendenfinanzierter Verein, zu dem sich vor vier Jahren einige AktivistInnen, die meisten von ihnen in den Zwanzigern, zusammengetan haben, um gegen Rechtspopulismus vorzugehen. Sie waren geschockt darüber, wie AfD- oder Pegida-Parolen den gesellschaftlichen Diskurs zunehmend bestimmten – und fühlten sich machtlos. „Unsere Erfahrung war, dass wir mit unserer Sprache und unseren Handlungen nicht weiterkamen“, sagt Paulina Fröhlich, die neben Steffan sitzt. „Wir merkten: Wir brauchen eine Kommunikation, die nicht an der Oberfläche bleibt, die uns tiefer trägt. Sonst bleibt es bei Schlagabtauschen, die nichts ändern.“
Das ursprüngliche Ziel steckt im Namen des Vereins: Die AktivistInnen wollten die AfD bei der Bundestagswahl 2017 unter fünf Prozent halten – und damit aus dem Bundestag heraus. Das ist gescheitert. Doch „Kleiner Fünf“ entschied, weiterzumachen, unter anderem mit Workshops zur radikalen Höflichkeit. Hauptsächlich, so Fröhlich, stelle der Verein Tipps für Menschen bereit, deren GesprächspartnerInnen kein verfestigtes rechtes Weltbild haben. Sondern bei denen eine Chance auf Gemeinsamkeiten, Ruhe und Respekt besteht.
Sie wollen verhindern, dass sich alle in ihre Blasen zurückziehen, ihre Ansichten nicht mehr in Frage stellen. Denn das führe zu immer radikaleren Meinungen, Gespräche mit Andersdenkenden würden immer schwieriger. Das schade nicht nur Familien und Freundeskreisen, sondern auch der Demokratie. So steht es in einem kleinen Buch mit dem Titel „Sag was!“, das der Verein herausgeben hat. Einzelberatung bietet das Team normalerweise nicht an, die Gespräche mit dem Journalisten Vesterhold sind eine Ausnahme – weil daraus dieser Text entstehen soll.
„Wir haben uns schon immer viel gestritten, erbittert gestritten“, erzählt Vesterhold jetzt. „Über Geld, über meine Frauen, meine Jobs, über viel Fundamentales.“ Auch früher, als er noch ein Teenager war, ging es schon um „Ausländer“, die seine Mutter auch gern „Asylanten“, „Schwatte“ oder „N…“ nennt. Es gab jahrelange Kontaktsperren zwischen Mutter und Sohn. Vieles änderte sich, als die Enkel kamen. Sie sind jetzt vier und sechs. Die Kinder, sagt Vesterhold, seien für ihn die Chance für einen Neuanfang mit seiner Mutter gewesen.
Sie kümmert sich toll um sie, nimmt sie auch mal eine ganze Woche zu sich – und wir können freimachen. Das ist eine Hilfe, die ich ihr hoch anrechne, das hat viel dazu beigetragen, sie wieder mehr schätzen zu lernen. Wir hatten ja Jahrzehnte nur Dauerkrach. Soll ich das alles aufs Spiel setzen, damit sie mir keinen rechten Kram mehr schickt? Da schweige ich lieber.
Das dachte ich lange. Mama sollte Oma sein. Mich in Ruhe lassen. Und gut. Bekehren kann ich sie sowieso nicht. Eine Mutter, die keine rechten Parolen schwingt, würde alles natürlich viel einfacher machen, unser Verhältnis noch mehr entspannen. Ich wage aber gar nicht, mir eine tolerante Mutter zu wünschen. Das ist, so viel ist nach all dem Geschrei klar, völlig ausgeschlossen.
Die Mutter radikalisiert sich
Mit dem Flüchtlingssommer 2015 aber wurden die Konflikte zwischen Mutter und Sohn schlimmer. Schon wenn sie ihn bei einem Besuch mit dem Auto vom Bahnhof abholte, ging es los. Spätestens, wenn sie sich auf ihrer Terrasse zum Kuchen hinsetzten, krachte es.
„Diese Araber wollten mich vom Bürgersteig auf die Straße drängen“, habe seine Mutter mal erzählt, sie sei voll mit Wut gewesen, erzählt Vesterhold bei „Kleiner Fünf“. „Die hatten so hässliche Gesichter und rochen fies.“ – „Aber Mama, vielleicht haben sie dich einfach nicht gesehen.“ – „Die wollen hier die Chefs werden, die passen einfach nicht hierhin.“ Das habe er so nicht stehenlassen können: „Wir gifteten uns an.“ Irgendwann wollte sie mitbekommen haben, dass in Sichtweite ihres Hauses im Fränkischen Flüchtlinge untergebracht werden sollten. „Ich geb mir die Kugel“, schimpfte sie.
Margarete Vesterhold hat nach Volksschulabschluss und Hotelfachlehre in gutbürgerlichen Restaurants gekellnert, die sie gemeinsam mit Vesterholds Vater, einem Koch, betrieb. Dann machte sie den Realschulabschluss per Telekolleg nach. Und sattelte eine Ausbildung drauf: Die letzten drei Jahrzehnte bis zur Rente arbeitete sie als Steuerfachgehilfin. Heute besitzt sie zwei Häuser in einer kleinen Stadt in der Nähe einer fränkischen Großstadt.
Es ist eine klassisch westdeutsche Aufstiegsstory der 70er, 80er, 90er. Wohlstand und Maloche, sie hat es geschafft. Ihre Mutter starb früh, die Stiefmutter war gar nicht nett zu ihr, die Trennung von meinem Vater Anfang der nuller Jahre hat Mama bis heute nicht richtig verwunden. Das waren die Tiefschläge. Aber sonst? Finanziell hat sie ausgesorgt. Mamas große Erzählung: „Ich hatte nichts. Deine Oma hat uns nur Plastikschüsseln zur Hochzeit geschenkt, darin habe ich dich gebadet.“ Und: „Ich wollte immer, dass du es mal besser hast als ich.“
Margarete Vesterhold hält heute den Staat, das ganze System, das ihr den Aufstieg ermöglicht hat, für marode, als stehe alles kurz vor dem Kollaps – und das bereits lange bevor das Coronavirus das Land tatsächlich lahmgelegt hat. Die Grünen, meint sie, dominierten alles, und die CDU „mit der Frau Merkel“, wie sie verächtlich sagt, eifere ihnen nach.
Das Absurde: Die Mutter, die das alles mit aufgebaut hat, empfindet das System heute als morbid, der früher staatskritische Sohn ist mittlerweile auch mal einer Meinung mit der Regierung. Etwa beim Offenhalten der Grenzen 2015.
„Das geht vielleicht noch für mich gut, aber nicht mehr für die Kinder“, sage seine Mutter, erzählt Tom Vesterhold in der Kreuzberger Fabriketage. Und: „Mit diesen Schwatten, die jetzt hier auf dem Rathausplatz rumlungern, kann das nicht lang gut gehen in Deutschland.“
„Woher kommt das?“, fragt Paulina Fröhlich. „Woher kommt bei deiner Mutter diese Wut?“
Vesterhold stutzt kurz, er überlegt. „Sie hat das Gefühl, die nehmen ihr etwas weg. Und dass das ungerecht ist, weil sie so für ihr Geld schuften musste. Sie hat sich alles erarbeitet und die Migranten werden mit Sozialleistungen gepampert – das ist ihre Erzählung.“
Vielleicht, schlägt Fröhlich vor, sei es gut, sich zu überlegen, wann Tom Vesterholds eigenes Gerechtigkeitsgefühl mal so richtig in Frage stand. Vesterhold guckt sie fragend an. „Wir versuchen, in Gesprächen an das Kerngefühl heranzukommen“, erklärt Fröhlich. „Solange wir bei einem politischen Thema wie Sozialleistungen bleiben, hauen wir uns Argumente um die Ohren, docken aber nicht wirklich aneinander an. Wir hören einander nicht richtig zu, lassen uns nicht ein. Woher kommt das?, könnte auch ein Ausgangspunkt für ein Gespräch mit deiner Mutter sein. Aber die Frage darf nicht vorwurfsvoll sein.“
Vesterhold ist skeptisch. Da sei man, sagt er, doch schnell bei Küchenpsychologie. „Dann landen wir gleich dabei, dass schon der Vater ihren Bruder bevorzugt hat. Das ist ihr Grundgefühl. Sie ist immer benachteiligt worden.“
„Dann fangen wir noch mal anders an“, sagt Steffan. „Was willst du mit dem Gespräch erreichen? Willst du, dass sie dich hört? Willst du, dass sie einverstanden ist? Willst du, dass sie etwas umsetzt?“ Es sei ganz wichtig, sich das klarzumachen.
„Spontan würde ich sagen, sie soll den Mund halten“, platzt es aus Vesterhold heraus. Und etwas später: „Aber überlegt würde ich sagen, dass es darum geht, wie wir miteinander umgehen können. Sie soll mich und meine Meinung akzeptieren – und mich nicht mit dem rechten Zeug verpesten.“
Das ist etwas anderes als Fröhlichs Vorschlag, mit der Frage „Woher kommt das?“ den Dingen auf den Grund zu gehen. Fröhlich betont noch einmal, wie wichtig es sei, dass die Logik der rechtspopulistischen Kommunikation von Feindbild und Bedrohung gebrochen werden muss. „Man wird kein Verständnis gewinnen, wenn man nicht bereit ist, dieses Modell zu hinterfragen. Woher kommt das? Diese Frage ist unserer Erfahrung nach extrem nützlich. Wir raten ja fast ab von inhaltlichen Diskussionen. Sonst sind wir wieder beim Schlagabtausch.“ Vesterhold nickt zögerlich. Ganz überzeugt scheint er nicht zu sein.
Steffan gibt noch ganz praktische Tipps: „Rede mit ihr allein, mit Zeit, nicht am Telefon und nicht bei ihr oder dir, und am besten in Bewegung.“
Die Mitte verliert ihre demokratische Orientierung
Andreas Zick ist Sozialpsychologe und Konfliktforscher an der Universität Bielefeld. „Solche Konflikte dürften häufig vorkommen“, sagt er am Telefon. „Man muss davon ausgehen, dass der Riss quer durch viele Familien geht.“
Zick gehört zu einer Forschungsgruppe, die seit 2002 bundesweit die Einstellungen zu „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ abfragt. „Bei allen Faktoren – Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus – liegen die Werte bei den Alten höher“, sagt Zick. Dabei gehe es oft um „Etabliertenrechte“, also eine Art Besitzstandswahrung. Die alte These von der größeren Radikalität der Jugend hält er für falsch, sie stimme nur bei den Straftaten. „Deshalb muss es in den Familien haufenweise Konflikte geben“, sagt Zick. Konkrete Studien dazu aber gebe es nicht.
Neue Daten zeigten allerdings, dass es zwischen Frauen und Männern keine gravierenden Unterschiede mehr bei menschenfeindlichen Einstellungen gebe, so Zick. Lange Zeit waren Frauen laut Studien rassistischer eingestellt. Auch mit Blick auf rechtspopulistische Vorstellungen gleichen sich Frauen und Männer. In den Untersuchungen, die Zick durchgeführt hat, sind diese seit 2016 stabil. Das heißt aus Sicht der ForscherInnen aber auch: Sie sind in der Mitte normaler geworden.
Deshalb hieß die Studie, die 2016 noch den Titel „Gespaltene Mitte“ trug, zuletzt bereits „Verlorene Mitte“. Das Resümee der WissenschaftlerInnen: „Die Mitte verliert ihren festen Boden und ihre demokratische Orientierung.“
Die Vesterholds haben, erzählt der Sohn in der Kreuzberger Fabriketage, eine Woche in einem Familienhotel in der Rhön geplant. Mit Kinderbetreuung. Mutter, Sohn, Enkelkinder. „Perfekt“, sagt Steffan. „Und was machst du dann?“
„Dann sag ich: Willst du wirklich, dass die Ungerechtigkeit, die dir damals widerfahren ist, jetzt andere trifft?“
„Das ist eine vorwurfsvolle und nicht besonders offene Frage“, sagt Steffan. Vielleicht sei es besser, er sage: „Wir streiten seit Jahren heftig und wir merken, dass wir grundsätzlich eine andere Vorstellung von der Welt und von Gerechtigkeit haben. Das irritiert mich. Ich wüsste gern: Wie kommst du dazu?“ Fröhlich schlägt vor, sich auf ein paar Regeln zu einigen. Zum Beispiel, dass die Mutter keine Posts mehr schickt, sondern stattdessen zum Telefon greift und mit ihrem Sohn spricht.
Dann wird das Gespräch in dem Besprechungsraum einmal durchgespielt. Fröhlich verteilt die Rollen: Tom Vesterhold soll seine Mutter spielen, Fröhlichs Kollege den Sohn.
In dem Rollenspiel bleibt der gespielte Sohn eng an seinen Fragen, wieder und immer wieder hakt er nach. „Woher kommt das?“ – „Warum ist das so?“ – „Ich verstehe den Zusammenhang nicht.“ – „Lass uns noch mal auf meine Ausgangsfrage zurückkommen.“ Tom Vesterhold, in der Rolle seiner Mutter, grantelt, lässt rechtspopulistische Sprüche los, irgendwann weiß er nicht mehr weiter. Als er später bei der Auswertung über seine Rolle spricht, sagt er: „Du hast versucht, mich festzunageln, ich wollte nicht antworten, ich bin in Rechtfertigungsdruck gekommen.“
Sechs Wochen später fährt Vesterhold mit seiner Mutter und den Kindern zum Urlaub in die Rhön. Dort macht er sich Notizen.
Mama und ich spazieren durch den Wald. Wir haben drei Stunden Zeit. Die Kinder werden im Hotel betreut, sonst ist niemand in der Nähe – und ich nehme mein Herz in die Hand.
„Mama, ich wollte dir noch mal sagen, dass ich nicht mehr diese ausländerfeindlichen Nachrichten von dir bekommen will. Lass uns bitte nicht darüber streiten, lass uns darüber ganz in Ruhe reden.“
„Wieso?“
Ich-Aussagen, eigene Wünsche formulieren, nüchtern sprechen, denke ich. „Es schockt mich jedes Mal, dass du den Geflüchteten nicht das zugestehen willst, was ihnen laut Grundgesetz zusteht. Also: Was ist eigentlich das Problem?“
Sie antwortet ganz ruhig, das überrascht mich: „Mir macht das einfach Angst mit den Ausländern. Das sind einfach zu viele. Ich will hier raus, ich halte das nicht mehr aus“, sagt sie. Sie denke gerade übers Auswandern nach, vielleicht nach Rumänien, denn die Schweiz könne sie sich nicht leisten.
„Ich ertrage das einfach nicht mit der deutschen Politik. Wenn wenigstens nur Menschen aus Asien hier einwandern würden, wäre es nicht so schlimm. Die sind fleißig, die packen an. Aber diese Araber, die hier die Hand aufhalten. Daran geht das Land zugrunde. Bald gibt es keine Deutschen mehr, nur noch diese Viecher.“
Früher hätte ich mich über das Wort „Viecher“ aufgeregt. Jetzt versuche ich, sachlich zu bleiben. Erzähle von einer Untersuchung der Bundesanstalt für Arbeit, laut der vergleichsweise viele der vor fünf Jahren nach Deutschland Geflüchteten inzwischen hier eine Beschäftigung gefunden haben. Sie spricht von ihrer türkischstämmigen Friseurin: „Die hat mir die Haare schief geschnitten, seitdem sie mit einem Mann verheiratet ist, der nur Türkisch kann.“
Hilft das Konzept „radikale Höflichkeit“?
Sechs Wochen später sitzt Vesterhold wieder bei „Kleiner Fünf“ in der Kreuzberger Fabriketage. „Eure Tipps sind super, legendär“, beginnt er. „Zunächst hat alles wie am Schnürchen geklappt. Wir in der Rhön, die Kinder im Kinderprogramm, Mama und ich im Wald. Mehrmals. Es kam ein ruhiges und gesittetes Gespräch zustande.“
Dann erzählt er aber auch, dass seine Mutter wieder von den „Schwatten“ gesprochen habe. Dass sie sich weiter abfällig über Migranten geäußert habe. Dass kurze Zeit nach dem Urlaub neue Posts gekommen sind.
Steffan und Fröhlich gucken skeptisch. „Du hast gesagt, die Tipps seien legendär. Aber was außer einer guten Gesprächsbasis war da noch?“, fragt Steffan vorsichtig. „Sie schickt dir weiterhin diese Nachrichten?“
„Nicht mehr so viele, aber schon noch“, antwortet Vesterhold. „Für mich besteht der Fortschritt darin, dass wir überhaupt ruhig miteinander reden konnten. Es gab ein Gespräch über Zuwanderung, aber wir sind nicht laut geworden. Für mich ist das was. Ich wollte sie schließlich nicht bekehren.“
Dass er vorher als Ziel formuliert hatte, keine dieser Nachrichten mehr zu bekommen, ficht ihn nicht an. Bei dem Gespräch jetzt lenkt er ab, immer wieder. Will über die AfD sprechen und die Auseinandersetzung mit der Partei. Fragt, ob man so auch Gauland, Höcke und Co beikomme. Und ob man gegen die nicht endlich etwas Schlagkräftiges unternehmen müsse. Die Demokratie sei schließlich in Gefahr. Doch die beiden Teamer machen klar: Die Auseinandersetzung mit Funktionären ist etwas völlig anderes. Hier, bei ihrer Methode der radikalen Höflichkeit, gehe es um private Kontakte.
„Vielleicht“, sagt Steffan schließlich, „könntest du trotzdem nochmal sagen, dass du diese Nachrichten nicht mehr willst. Etwa so: ‚Ich finde es toll, dass wir jetzt darüber reden, aber ich will diese Posts nicht mehr bekommen.‘“ Oder vielleicht könne man sich auf Regeln verständigen, dass etwa das N-Wort nicht fällt, fügt Fröhlich an. Dann fragt sie, ob die Mutter zugehört habe, ihn habe ausreden lassen, wie das Gespräch geendet sei. Perfekt sei es nicht gewesen, sagt Vesterhold, aber ein Anfang. Ein guter Anfang.
Immerhin hat meine Mutter noch nie AfD gewählt, sagt sie, sondern meistens CDU oder in Bayern eben CSU. Die Begründung fand ich gut. Sie sagte: „Ich bin mir da nicht so sicher mit der AfD. Da sind auch ganz schön viele Proleten dabei.“ Das hat mich erleichtert. Auch wenn es ihr nicht um die Inhalte, sondern nur um die Specknacken in der AfD ging.
„Vielleicht hat sich dein Ziel auch verändert“, sagt Fröhlich jetzt. Vesterhold denkt kurz nach. „Ja, vielleicht stimmt das.“
Ich bin froh, dass ich jetzt überhaupt mit ihr reden kann. Dass sie mich als Gesprächspartner akzeptiert. Dass wir nicht gleich brüllen. Das ist auch schon was. Vielleicht wird daraus ja mehr.
Und dann kam Corona: Ein Enkelbesuch im März wird abgebrochen, als klar wird, dass die Ansteckungsgefahr gerade für Ältere zu hoch und das Virus für sie besonders gefährlich ist. Es gibt Telefonate und Videochats zwischen Großmutter, Sohn und Enkeln. Aber es gibt kaum noch Konflikte. Die Pandemie, die Einsamkeit der Alten, der Stress mit ihrem Lebensgefährten, die Probleme der Familie mit geschlossener Kita und viel Arbeit dominieren die Gespräche. Margarete Vesterhold hat andere Prioritäten. Auf die Corona-Verschwörungstheorien der Rechten springt sie nicht an. Sie fühlt sich einsam. Die AfD-Posts per WhatsApp versiegen.
Ein Erfolg unserer Gespräche ist das wahrscheinlich nicht. Ich habe Mama nicht bekehrt. Und ich fürchte, sie kommt irgendwann wieder mit ihrer Hetze. Aber immerhin schreien wir uns deshalb nicht mehr an. Ich versuche, „radikal höflich“ zu sein, die Schlagabtausche zwischen uns sind selten geworden. Atmosphärisch hat das viel verbessert. Grundsätzlich geändert hat es nichts. Oder doch?
„Wisst ihr was? Ich vermisse euch“, sagt Margarete Vesterhold zu ihren Enkeln am Telefon. Sie und die Kinder sind eigentlich unzertrennlich, aber da antworten sie nicht. Kinder sind manchmal eben so. Doch ihr Schweigen tut Vesterhold leid. Er würde seine Mutter, die sonst selten über ihre Gefühle spricht, jetzt gerne in den Arm nehmen. Das ist, wie er später erzählen wird, eine ungewohnte Reaktion von ihm. Wie lange sie wohl noch lebt, fragt er sich. Die Pandemie hat die Auseinandersetzungen der Vesterholds in den Hintergrund gerückt. Plötzlich gibt es Wichtigeres, als das, was die Beziehung zwischen Mutter und Sohn über Jahre so schwierig gemacht hat. Corona wird vergehen. Ob die Annäherung bleiben wird? Tom Vesterhold wünscht es sich. Nicht nur wegen der Kinder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?