Rechte Jugendliche in Ostdeutschland: Hakenkreuze auf Schulbänken
Eine Berliner Schulklasse musste wegen rassistischer Bedrohungen aus einem Camp an einem Brandenburger See fliehen. Wiederholen sich die 90er Jahre?
Dass die 90er Jahre nicht zurück sein können, sieht man auf Spiegel Online.
Da steht ein Interview mit Anne Brüggemann, der Leiterin der Brandenburger Beratungsstelle für Opfer von rassistischer, antisemitischer, gemeinhin rechter Gewalt. Aber es ist verplust, also nur für die Menschen lesbar, die dafür zahlen. Bei Spiegel Online glauben sie also, das verkaufen zu können, was eine Frau sagt, die sich um die Opfer von Nazis kümmert. Das wäre ihnen in den 90ern nicht passiert. Da galten Ostlinke, die über Nazis redeten, als fusselige Panikmacher:innen, die die taz und Frankfurter Rundschau zu verarzten hatten.
Anne Brüggemann wird vom Spiegel-Kollegen gefragt, ob sie überrascht sei, dass eine Berliner Schulklasse aus einem Camp an einem Brandenburger See floh, weil die einheimischen Gäste einer Geburtstagsfeier die Schüler:innen rassistisch beleidigten und bedrohten. Und ob eben die 1990er Jahre zurück seien, jene Zeit, in der Berliner Schulklassen in Ostdeutschland immer wieder angegriffen wurden, jene Zeit, in der Banden von Nazis Straßen, Dorffeste, Parks und Kneipen in vielen Teilen Ostdeutschlands terrorisierten und Schwarze Menschen, Obdachlose, Geflüchtete, Punks ermordeten. Manchmal, wie in jener Sommernacht 1994, in der Skinheads den Kraftfahrer Gunter Marx mit einem Radmutternschlüssel erschlugen, brauchten sie auch nur Geld für die Disko.
Vor einem Rückfall in diese Zeit warnte in dieser Woche jedenfalls der Vorsitzende der CDU-Fraktion im Brandenburger Landtag. Ja, niemand von den Linken oder den Grünen, sondern von der CDU. Die 90er können also wirklich nicht zurück sein. Die Flucht der Berliner Schüler:innen hätte für so eine Warnung vielleicht nicht gereicht, aber es passiert gerade viel in Brandenburg, in Ostdeutschland: Lehrer:innen einer Schule in Burg im Spreewald schrieben einen öffentlich gewordenen Brief über Hitlergrüße auf dem Schulflur, rechtsextreme Musik im Unterricht, Hakenkreuze auf Schulbänken.
Und: An einer Schule in Bautzen, Sachsen, backt ein Mitglied der rechtsextremen AfD-Jugendorganisation Junge Alternative Buchteln und Gemüsechips mit den Kindern, ein Ganztagsangebot. Und: In Brandenburgs Hauptstadt Potsdam haben Jugendliche seit dem vergangenen Sommer mindestens drei Mal Student:innen rassistisch beleidigt und angegriffen. Und: So weiter und so fort.
Die 90er wirken bis heute nach
Was die 90er von heute unterscheidet, ist vor allem die Öffentlichkeit für solche Taten. Sie ist größer oder überhaupt da, oft erzwungen durch soziale Medien, in denen Menschen auch das zeigen, was die Journalist:innen der auflagenstarken Regionalzeitungen Ostdeutschlands in den 90er Jahren häufig nicht berichteten. Das Level der Ereignisse, das die beiden Lehrer:innen an der Brandenburger Schule aufmerken ließ, liegt unter dem, was an vielen Schulen damals schlicht normal war. Die Wahrnehmung hat sich verändert. Auch weil es nicht mehr so viele exzessive Taten in so kurzer Zeit gibt wie damals.
Aber die 90er sind auch mehr als eine Erinnerung. Sie wirken bis heute.
In einer Reportage in der Zeit über die Schule in Burg spricht die Schulleiterin über die Clique, von der sich linke Schüler:innen terrorisiert sehen. Sie sagt: „Diese Jungs sind Teenager, sie sind in der neunten Klasse und suchen ihren Platz. Sie wollen sich ausprobieren.“ Die Direktorin wirft den Lehrer:innen, die den Brief über Hitlergrüße und Rassismus an der Schule geschrieben haben, vor, dass die sich nicht an sie gewendet haben. Wer das Problem benennt, ist ein Störenfried. Die Rechten sind unsere Jungs. Das ist das Reden der 90er.
Die Generation der Männer, die in den 90ern Jugendliche waren, ist heute eine wichtige Trägergeneration von Organisationen wie der AfD, den Freien Sachsen und von rassistisch motivierten Protesten gegen Geflüchtete 2015 und später. In den 90er Jahren haben Jugendliche die Erfahrung gemacht, dass die Polizei vor ihnen zurückgewichen ist und weggesehen hat, wenn sie Migrant:innen und Linke angegriffen haben, und dass auch die Politik vor ihnen zurückwich und die Asylgesetze drastisch verschärfte.
Im Jahr 2015, in dem Jahr, als viele Menschen aus Syrien nach Deutschland kamen, stiegen die nach den 90ern zurückgegangenen Zahlen rassistisch motivierter Taten wieder stark an. Und die Polizei wich 2015 wieder an vielen Orten vor rassistischem Protest zurück, Politiker:innen verschärften die Asylgesetze erneut. Die Erfahrungen der Rechten aus den 90ern bestätigen sich. Ihre Kinder sehen, dass wahr ist, was ihre Eltern erzählen: Sie können sich erlauben, so zu sein.
2022 zählte die Opferperspektive 138 rechte Übergriffe in Brandenburg, und die trafen mehr als 240 Menschen. Manchmal attackieren Eltern und Kinder Menschen, die ihnen nicht passen, gemeinsam. Die Brandenburger Jugendstudie und die Autoritarismusstudie aus Leipzig zeigen, dass rechtsextreme Einstellungen bei vielen Jungen in Ostdeutschland nicht verschwinden, sondern wachsen. Die brandenburgische Schriftstellerin Manja Präkels, Autorin des 90er-Romans „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“, sagt, sie sieht bei ihren Lesereisen, bei ihrer Arbeit an Schulen, dass eine Form von rassistischer Härte und Mitleidlosigkeit von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird.
Eine weiße Erzählung
Was den 90ern heute ähnelt, sagt der Magdeburger Rechtsextremismusexperte David Begrich, ist das, was in Ostdeutschland öffentlich diskutiert wird. Wer bekommt was? Verteilungskämpfe, die in Sozialdarwinismus umschlagen. Wer darf sprechen? Kämpfe um Repräsentation. Und die werden wieder mit Gewalt geführt. Aber eben nicht mit der gleichen Brutalität in der gleichen Frequenz wie damals, vielleicht, weil Menschen mit faschistischen Haltungen es nicht müssen. Es gibt eine normalisierte Partei, die rechtsextreme Positionen vertritt. Mit ihrem Wählerpotenzial von 30 Prozent strahlt die AfD in Ostdeutschland weit aus. Mit ihr und ihrem Umfeld müssen Bürgermeister:innen rechnen, die ein Heim für Geflüchtete in ihrem Ort haben, aber ebenso Theater, die ein Stück aufführen, das Rassist:innen nicht passt.
Dass die 90er eine Zeit wären, die irgendwann mal abgeschlossen gewesen sei, das sei ohnehin eine Erzählung weißer Menschen, sagt Katharina Warda, eine Schwarze Soziologin und Autorin, die unter anderem zu Rechtsextremismus und migrantischem Widerstand in Ostdeutschland forscht. Ja, auch Migras und Post-Migras hätten einen Unterschied zwischen den 90ern und der Zeit danach gemerkt, aber es habe eben auch immer tödliche Taten gegeben. Und eine Sache sei gleich geblieben, sagt sie: Wenn über rassistische oder gegen Linke gerichtete Gewalt geredet wird, dann stehen auch heute zu selten die im Mittelpunkt des öffentlichen Redens, die diese Gewalt trifft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers