Rassistische Krawalle in Clausnitz: Polizei gibt Flüchtlingen Mitschuld
Ein weinender Flüchtlingsjunge im Bus, grölende Demonstranten davor: Die Tumulte aus Clausnitz werfen viele Fragen auf – auch an die Polizei.
Deswegen seien drei Flüchtlinge von der Polizei gewaltsam aus dem Bus geholt worden. Dies sei „absolut notwendig und verhältnismäßig“ gewesen, betonte Reißmann. Zugleich räumte er ein, dass die Polizei am Donnerstagabend Probleme hatte, der Situation in dem kleinen Erzgebirgsort Herr zu werden.
An dem Abend hatte sich ein fremdenfeindlicher Mob – zeitweise bis zu 100 Menschen – vor dem Flüchtlingsheim versammelt und versucht, die Ankunft der Asylbewerber mit einer Blockade zu verhindern. Anfangs war dabei nur eine Polizeistreife vor Ort.
„Aus heutiger Sicht war das eine Fehleinschätzung“, sagte Reißmann. Ein Beamter habe den Demonstranten einen Platzverweis samt Konsequenzen angedroht und dafür nur Gelächter geerntet. Danach gefragt, warum der Platz nicht geräumt wurde, sagte der Polizeipräsident: “Es hat dafür die Kraft gefehlt.“ Zum kritischen Zeitpunkt seien weniger als 20 Beamte vor Ort gewesen. Die Demonstranten stammen seinen Angaben zufolge weitgehend aus Clausnitz selbst.
Leiter der Einrichtung AfD-nah
Seit dem Einsatz sorgen Videoclips im Internet für Empörung. Zu sehen sind verängstigte Flüchtlinge in dem Bus, ein Polizist zerrt einen Jungen rabiat aus dem Fahrzeug. Dies sei zum Schutz des Jungen erfolgt und abgesprochen gewesen, erklärte Reißmann. Es sei davon auszugehen gewesen, dass er in dem Gebäude sicherer sei als in dem Bus. Aus der Erfahrung früherer Einsätze habe man damit rechnen müssen, dass die Demonstranten Steine oder Böller auf den Bus werfen.
Das ZDF berichtete, der Leiter der Unterkunft gehöre der rechtspopulistischen AfD an. Auf Anrufe und Rückrufbitten der dpa reagierte der Mann nicht. Die AfD weist ihn im Internet aber als Mitorganisator von Parteiveranstaltungen aus. Nach Angaben Reißmanns hatte der Bürgermeister des Ortes die Einwohner über die Ankunft der Flüchtlinge informiert.
Doch augenscheinlich aus Angst vor den Protesten und der chaotischen Situation hatten die 20 Flüchtlinge den Bus zunächst nicht verlassen wollen. Sie berichteten der Deutschen Presse-Agentur am Samstag, dass die Polizei auch einer Frau die Arme auf den Rücken gedreht und sie zwangsweise aus dem Bus geholt habe.
Der Junge aus dem Internetvideo ist nach eigenen Angaben 14 Jahre alt und stammt aus Tripoli im Libanon. Er ist mit seinem Bruder und seinem Vater seit drei Monaten in Deutschland und war zunächst in Dresden untergebracht, wie er der dpa sagte. Der Bruder ist auf dem Video zu sehen, wie er freiwillig, aber weinend den Bus verlässt.
Clausnitz Thema im Bundestag
Der sächsische Grünen-Landesvorsitzende Jürgen Kasek sagte mit Blick auf die Vorfälle: “Das sind keine Bilder, die wir hier in Deutschland sehen wollen. Das, was am Donnerstagabend passiert ist, darf nie normal werden.“ Linke-Landtagsfraktionschef Rico Gebhardt betonte: „Menschen, die Busse blockieren, die hilflose Kinder, Frauen und Männer zusammenschreien, kann ich nur als Rassisten bezeichnen.“ Zudem müsse das Verhalten einzelner Polizisten aufgeklärt werden. Ein rabiater Umgang mit Kindern sei nicht zu entschuldigen.
Grünen-Bundeschef Cem Özdemir forderte, den leitende Polizeibeamten des Einsatzes zu suspendieren. Er sei seiner Verantwortung nicht gerecht geworden. Polizeipräsident Reißmann sagte dagegen, er sehe keinen Anlass für Konsequenzen. Die Grünen wollen den Polizeieinsatz am Mittwoch im Innenausschuss des Bundestags thematisieren. Die Fraktion bestätigte auf Anfrage eine entsprechende Meldung des MDR.
Derzeit geht die Polizei 14 Anzeigen etwa wegen Verstößen gegen das Versammlungsrecht oder Nötigung nach. Reißmann rechnete damit, dass es noch mehr werden. Auch schloss er Ermittlungen gegen einzelne Flüchtlinge nicht aus. Zudem seien mehr als 50 Online-Anzeigen wegen des Polizeieinsatzes eingegangen.
Für Samstagabend war in Clausnitz, einem Ortsteil von Rechenberg-Bienenmühle, eine Solidaritätskundgebung für die Flüchtlinge geplant.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja