piwik no script img

Rassismus in RusslandMi­gran­t*in­nen in Todesangst

Menschen aus Zentralasien werden seit dem Anschlag vom Freitag mit 139 Toten immer häufiger Opfer von Festnahmen, Übergriffen und Schikanen.

Priester an einer Gedenkstätte in Moskau. Auch die orthodoxe Kirche beteiligt sich an der Hetzjagd gegen MigrantInnen aus Zentralasien Foto: Alexander Zemlianichenko/ap

BERLIN taz | Unter Mi­gran­t*in­nen aus Tadschikistan, aber auch Usbekistan und Kirgistan in Russland geht dieser Tage die Angst um – aus gutem Grund. Seit dem Terroranschlag auf die Konzerthalle Crocus City Hall im Moskauer Vorort Krasnogorsk vom vergangenen Freitag, bei dem vier mutmaßliche Attentäter tadschikischer Herkunft 139 Menschen getötet hatten, werden sie immer häufiger Opfer von willkürlichen Festnahmen, tätlichen Übergriffen, Razzien, Bedrohungen und Schikanen.

Laut dem Telegram-Kanal Baza seien am Wochenende in den Abteilungen der Organe für innere Angelegenheiten spezielle Gruppen lokaler Inspektoren und Kriminalbeamter gebildet worden, um ausländische Staats­bür­ge­r*in­nen in Wohnheimen, am Arbeitsplatz und auf der Straße zu überprüfen.

Das russischsprachige Nachrichtenportal Meduza zitiert unter Berufung auf Radio Ozodi (Dienst von Radio Freies Europa) einen Tadschiken, dessen Sohn sowie zwei seiner Brüder in Moskau festgenommen worden seien. „Sie renovierten gerade eine Wohnung. Mein Sohn ist der einzige Ernährer der Familie. Wohin sie sie gebracht haben und was mit ihnen passiert ist, wissen wir nicht“, so der Mann.

Doch nicht nur Polizei und Sicherheitsdienste machen vermehrt Jagd auf Mi­gran­t*in­nen aus Zentralasien. Auch die Bevölkerung lässt ihre Wut an ihnen aus. In den sozialen Netzwerken kursieren Forderungen, Menschen aus Zentralasien in Massen zu deportieren oder sogar umzubringen. Und bei Worten bleibt es nicht. So wurden Ta­dschi­k*in­nen angegriffen, von Vermietern aus ihren Wohnungen geworfen oder Taxifahrten wieder storniert, wenn sich herausstellte, dass der Fahrer Tadschike ist.

Einbruch ins Wohnheim

Die Menschenrechtsaktivistin Valentina Tschupik, die in Russland arbeitende Mi­gran­t*in­nen kostenlos berät, sagte dem Webportal Mediazona. Central Asia, dass sie in den ersten zwei Tagen nach dem Anschlag mehr als 2.500 Anrufe von Aus­län­de­r*in­nen in Russland erhalten habe.

Bei mehr als der Hälfte sei es um Polizeirazzien und illegale Festnahmen gegangen. Die An­ru­fe­r*in­nen hätten gesagt, sie seien „zu einem Gespräch“ mit Vertretern des FSB abgeführt worden. Zudem breche die Polizei in Wohnheime ein, in denen Mi­gran­t*in­nen lebten.

Führende Vertreter der tadschikischen Diaspora in Moskau haben jetzt ihre Landsleute aufgefordert, abends nicht mehr auf die Straße zu gehen und Massenveranstaltungen zu meiden. Kirgistans Außenministerium sprach die Empfehlung aus, auf Reisen nach Russland zu verzichten. Kir­gi­s*in­nen, die sich bereits in Russland aufhielten, sollten ständig ihre Dokumente bei sich haben.

Offiziellen russischen Angaben zufolge leben derzeit rund 1,3 Millionen Ta­dschi­k*in­nen in Russland, die tatsächliche Zahl dürfte weitaus höher sein. Für eine Einreise nach Russland benötigen sie kein Visum, daher heuern viel von ihnen für saisonale Jobs in Russland an. Zudem hat eine wachsende Anzahl mittlerweile die russische Staatsbürgerschaft.

Migran­t*in­nen als Gefahr

Sie, wie auch andere Menschen aus Zentralasien, haben seit jeher unter Schikanen und Verunglimpfungen zu leiden. An der rassistischen Hetze beteiligen sich nicht nur Politiker*innen, sondern auch die Russisch-Orthodoxe Kirche. So sagte der Moskauer Patriarch Kirill unlängst, Migrant*innen, vor allem aus Zentralasien, seien gefährlich. Sie gehörten einer anderen Religion an und ­würden die zivilisatorische Einheit der Rus­s*in­nen untergraben.

Doch es gibt immer noch auch mahnende Stimmen. Der Abgeordnete der Staatsduma, Konstantin Zatulin, sagte, dass diejenigen, die nach dem Terroranschlag zu Pogromen und Lynchmorden aufriefen, zur Verantwortung gezogen werden sollten, da sie „eine Destabilisierung innerhalb des Landes provozieren“. Der Kampf gegen Mi­gran­t*in­nen in dieser Form werde sich „unweigerlich verschärfen“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen