Radioaktiv verstrahlt in Bayern: Wildschwein-Rätsel ist gelöst
Außer Pilzen sind in Bayern auch Wildschweine noch radioaktiv belastet. Forschende haben herausgefunden: Es liegt nicht nur an Tschernobyl.
Eine Studiengruppe um den Radioökologen Georg Steinhauser untersuchte 48 Wildschweine, die von 2019 bis 2021 in Bayern erlegt wurden, auf im Fleisch nachweisbares Cäsium-137. Das ist ein radioaktives Isotop von Cäsium, das in der Natur so nicht vorkommt. Es entsteht bei Kernspaltung in Atomkraftwerken oder bei der Explosion von Atomwaffen.
Die Studie stellte dabei teilweise Strahlenwerte von bis zu 15.000 Becquerel pro Kilogramm Wildschweinfleisch fest – das ist 25-mal höher als der in der EU geltende Grenzwert. Im Durchschnitt wiesen die untersuchten Fleischproben 1.700 Becquerel auf. Die Einheit Becquerel gibt die mittlere Anzahl der Atomkerne an, die in einer Sekunde zerfallen.
Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung: Ein beachtlicher Anteil des Cäsium-137 in den Wildschweinen stammt nicht vom Tschernobylunglück, sondern ist bereits deutlich älter. Das radioaktive Material wurde nach Aussage der Studienautoren bei den US-amerikanischen und sowjetischen Atomwaffentests freigesetzt, die vor allem von 1950 bis 1963 überirdisch stattfanden. Am Cäsium-137 alleine hätten die Forschenden das allerdings nicht feststellen können: „Das Waffen-Cäsium-137 unterscheidet sich nicht vom Reaktor-Cäsium-137“, heißt es in der Studie.
Auf Atomwaffentests zurückzuführen
Doch die Mischung mit einem anderem Cäsium-Isotop macht’s: In beiden Fällen wird auch Cäsium-135 frei, das nur wenig radioaktiv ist, aber eine sehr lange Halbwertszeit hat. Nach mehr als zwei Millionen Jahren hat sich seine Menge erst halbiert. Die Halbwertszeit bei Cäsium-137 beträgt dagegen 30 Jahre. Das Verhältnis von Cäsium-135 zu Cäsium-137 ist bei Atomwaffentests etwa 2 zu 1, beim Reaktorunglück von Tschernobyl dagegen etwa 1 zu 2. Damit ergibt sich ein spezifischer radioaktiver „Fingerabdruck“, an dem sich ablesen lässt, wo das radioaktive Material entstanden ist.
Bei den für die Studie untersuchten Wildschweinen fanden die Forschenden nicht nur Cäsium mit dem radioaktiven Fingerabdruck von Tschernobyl. Teilweise ließ sich das Cäsium in ihrem Fleisch zu fast zwei Dritteln auf die Atomwaffentests zurückführen. Das radioaktive Cäsium-135 ist nicht nur langsam, was seinen Zerfall angeht: Es braucht auch sehr lange, um durch die Erdschichten in größere Tiefen zu wandern.
Die Tiere hatten es mit einer ganz speziellen Nahrung aufgenommen: Wildschweine hätten eine Vorliebe für Hirschtrüffel, weiß Steinhauser. In diesen unterirdisch wachsenden Fruchtkörpern lagere sich das Cäsium erst mit großer Zeitverzögerung ab. „Die Hirschtrüffel, die in 20 bis 40 Zentimetern Tiefe zu finden sind, nehmen somit heute erst das Cäsium auf, das in Tschernobyl freigesetzt wurde. Das Cäsium alter Atomwaffentests hingegen ist dort schon lange angekommen.“ Die radioaktive Belastung der Hirschtrüffel durch Tschernobyl werde erst noch kommen und die Belastung von Wildschweinfleisch deshalb in den kommenden Jahren wohl nicht deutlich sinken.
Bei Pilzen bis zu 1.000 Becquerel
Wild wachsende Pilze vor allem in Süddeutschland sind indes mit radioaktivem Cäsium-137 belastet, das bei dem Tschernobylunfall freigesetzt wurde. In größerem Umfang wird der Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm allerdings nur noch in einigen Regionen Bayerns und Teilen Oberschwabens überschritten, teilt das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in seinem aktuellen Pilzbericht mit.
Laut dem BfS müssen Pilzsammler:innen vor allem im Bayerischen Wald und in den angrenzenden Gebieten, im Donaumoos südwestlich von Ingolstadt sowie in den Alpen und am Alpenrand in der Region Mittenwald und im Berchtesgadener Land damit rechnen, dass einige Pilzarten teilweise noch sehr hohe Cäsiumwerte aufweisen.
So brachten es bei den jüngsten Messungen des BfS Semmelstoppelpilze und Rotbraune Semmelstoppelpilze in Einzelfällen auf Spitzenwerte von über 4.000 Becquerel Cäsium-137 pro Kilogramm Frischmasse. Andere Sorten kamen auf Maximalwerte über 1.000 Becquerel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel