Radikales Körpertheater: Sehnsucht nach Actionrollen
Mit Gewalt aus der Opferrolle: Florentina Holzinger hat eine „Stuntoper“ für zehn Frauen und ein Auto an den Münchner Kammerspielen inszeniert.
Die Nervosität wäre ihr nicht anzumerken, würde Annette Paulmann sie im ulkigen Prolog des Stücks „Étude for an emergency. Composition for ten bodies and a car“, das Regisseurin Florentina Holzinger selbst als „Stuntoper“ bezeichnet, nicht explizit gestehen: „Wenn ich eine Hose anhätte, würde ich mir jetzt reinpullern.“
Denn so, wie sich die Schauspielerin, die man aus vielen Stücken an den Kammerspielen kennt, verausgabt, sieht man sie sonst nie in diesem Haus: Den ganzen Abend lang ist sie nackt.
In der Eingangsszene sitzen und stehen neben ihr zehn weitere unbekleidete Frauen auf der Bühne, drapiert wie auf einem Kunstwerk. Sie tragen nur schwarze Turnschuhe und Gürtel, an denen ihre Mikrofone befestigt sind. Die Bühne der Kammer 2 ist grell beleuchtet, heller als man sie sonst kennt, jedes Detail der Haut, jede Delle, jeder blaue Fleck, jedes Scham- und Achselhaar ist erkennbar.
Schon in der ersten Szene ist klar, dass Florentina Holzinger nicht umsonst gerade als radikale und kompromisslose Choreografin und Regisseurin gewürdigt wird. „Kein Applaus für Scheiße“ hieß eine ihrer ersten Produktionen. Zum Berliner Theatertreffen in diesem Jahr wird sie mit „Tanz“ antreten. Ab 2021 ist sie Artist in Residence an der Volksbühne Berlin, wenn René Polleschs Intendanz beginnt. Keine Frage, für Holzinger läuft es gerade ziemlich gut. Man wird noch viel von ihren provokanten Arbeiten sehen und hören.
Kino und Kampfsport
Holzingers Liebe gilt nicht nur dem von ihr selbst praktizierten Kampfsport, sondern auch dem Neo-Noir-Kino eines Quentin Tarantino oder Stanley Kubrick und sie adaptiert die Methode der coolen Ästhetisierung der Gewalt, die wir im Kino schon lange kennen, auf raffinierte Weise für die Bühne. Was durchaus aufgeht, denn ihre aggressiven Szenerien sind so drastisch wie bildstark und werden in diesem musikalisch smart unterlegten Referenzgewitter ausgiebig zelebriert.
Doch wo es bei Tarantino noch ein Narrativ gab, reiht Holzinger Szenen der abstrahierten Brutalität ohne Erzählstruktur assoziativ aneinander und setzt auf das Mittel der Wiederholung: Jede Sequenz wird so oft wiederholt und in Zeitlupentempo in die Länge gezogen, bis sie den oder die Zuschauer*in in einen magischen Sog gezogen hat.
Es beginnt mit der ikonischen Szene aus „Reservoir Dogs“, in der Mr Blonde einem Polizisten mit einem Rasiermesser ein Ohr abschneidet. Wie schön lässt es sich doch zum Liebeslied „Stuck in the Middle with You“ foltern! Nur, dass wir es eben mit zwei nackten Frauen zu tun haben, die diesen Angriff auf der Bühne simulieren. Später gibt es dann ein Reenactment aus „Clockwork Orange“, die Vergewaltigungsszene zu „Singin’ in the Rain“.
Zur Schau gestellte Verletzlichkeit
Der Kontrast zwischen verletzlicher Nacktheit und monströsen, wenngleich stilisierten Gewaltakten ist der Zündstoff, der diesen Abend über eine Länge von 90 Minuten antreibt. Die Zurschaustellung des weiblichen Körpers, den sie ohne sexuelle Konnotation in all seinen Facetten, Formen und ohne Scheu vor ostentativ gezeigter Versehrtheit inszeniert, ist ein Wagnis, das aufgeht.
Das liegt daran, dass sich das zehnköpfige Ensemble aus zwei Stuntfrauen, zwei Opernsängerinnen und mehreren Schauspielerinnen für diese atemlose Ballerei auf der Bühne mutig präpariert: Amazonengleich wie Uma Thurman als Rächerin Beatrix Kiddo im Film „Kill Bill“ metzeln sie sich gegenseitig bevorzugt mit Maschinengewehren nieder oder überfahren sich mit einem über die Bühne kurvenden Auto.
Das illustriert Holzingers Kernthese: Frauen sind nicht das Gegenteil von Gewalt. Sie widerlegt mit diesem Diktum von der mit Wollust mordenden Frau die Opferrolle, die dem Weiblichen als sanftem Gegenpol zur toxischen Männlichkeit historisch stets eingeschrieben wurde. Wir sehen an diesem Abend vielmehr toxische Weiblichkeit, Hass, Kunstblut, Hiebe, Tritte und Schläge. Auch Frauen ballern gern sinnlos durch die Gegend. Holzinger selbst nennt es das „Outing“ von gewaltsamen Sehnsüchten, die eben auch in Frauen schlummern und die sie transparent machen will, um ihnen zu Selbstermächtigung zu verhelfen.
„Étude for an emergency. Composition for ten bodies and a car“ ist furios inszeniert und von einem furchtlosen Ensemble voller Energie und Spielfreude getragen. Die aufwändig choreografierten Gewaltausbrüche kulminieren in ekstatischen Momenten poetischer Schönheit, die einem als Zuschauer*in selbst fast schon körperlichen Schmerz bereiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen