Prozess gegen SS-Wachmann: Kein Wort der Entschuldigung
In Brandenburg an der Havel beginnt der Prozess gegen einen ehemaligen Wachmann des KZ Sachsenhausen. Der Angeklagte schweigt.
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Schwarzbaum hofft, dass der Angeklagte zu seinen Taten steht und sich vor Gericht äußert. Christoph Heubner, Exekutivpräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, spricht für ihn: „Schwarzbaum hat wie viele Überlebende lange auf die Gerechtigkeit warten müssen.“
Josef S. benötigt keinen Rollstuhl. Der Angeklagte sitzt vielleicht dreißig Meter von Schwarzbaum entfernt nahe derselben Wand. Die beiden Männer teilen ihr biblisches Alter, aber sonst haben sie nichts miteinander gemein. Denn S. ' Arbeitsplatz war das KZ Sachsenhausen. Vom Oktober 1941 bis Mitte Februar 1945 bewachte er, zuletzt im Rang eines SS-Rottenführers, die Gefangenen.
S. macht in der zum Gerichtssaal umgebauten Sporthalle am Rande von Brandenburg einen rüstigen Eindruck. Um seinem Verfahren besser folgen zu können, stehen ihm Kopfhörer zur Verfügung.
„Teil des Tötungsräderwerks“
Josef S.' mutmaßliche Beteiligung an den Morden in Sachsenhausen ist fast 80 Jahre lang absichtsvoll übersehen worden. Die Staatssicherheit in der DDR, wo er nach dem Krieg lebte, wusste davon, doch unternahm nichts. Nach der Wiedervereinigung wurde S. zunächst aber auch kein Fall für die bundesdeutsche Justiz, die sich nur bei nachgewiesener direkter Beteiligung an Morden bemüßigt sah, tätig zu werden. Diese langmütige Rechtsauffassung änderte sich erst vor knapp zehn Jahren. Und deshalb sitzt Josef S. jetzt im Alter von 100 Jahren vor Gericht, angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 3.518 Fällen. Mord verjährt nicht.
Der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann, ein schon etwas älterer Herr, führt die Verhandlung souverän. Mehrfach erkundigt er sich, ob der Angeklagte das Gesprochene auch gut hören könne. Dann hat Oberstaatsanwalt Cyrill Klement das Wort. Er verliest die Anklage.
Josef S. wird darin vorgeworfen, als Angehöriger des SS-Totenkopfwachbattalions im Hauptlager Sachsenhausen bei Oranienburg „Teil des Tötungsräderwerks“ gewesen zu sein, die Morde gebilligt und von ihnen gewusst zu haben. Seine Aufgabe sei es gewesen, bewaffnet mit einem Gewehr auf einem der Wachtürme, auf Postenketten und bei der Bewachung von Arbeitskommandos dazu beigetragen zu haben, dass keiner der Gefangen flüchten konnte.
Der Staatsanwalt listet die Mordmethoden auf. Tod durch Massenexekutionen, insbesondere an sowjetischen Kriegsgefangenen. Systematische Tötung durch die Herbeiführung „lebensfeindlicher Bedingungen“, Hunger, Kälte, fehlende ärztliche Hilfe. Vernichtung der Kranken und Gebrechlichen durch Erschießen und Vergasen. Morde in der Gaskammer. Rund 200.000 Menschen wurden bis 1945 insgesamt in Sachsenhausen gefangen gehalten, Zehntausende sind gestorben.
Der Angeklagte hört der Verlesung der Anklage aufmerksam über seine Kopfhörer zu. Er macht einen wachen Eindruck. Der Überlebende Leon Schwarzbaum hat im Zuschauerraum den Kopf gesenkt.
Nach der Verlesung der Anklage fragt der Richter den Angeklagten, ob er etwas sagen möchte. Dessen Anwalt Stefan Waterkamp erklärt, dass sich sein Mandant nicht zu den Vorwürfen äußern werde, sondern einzig zu seinen persönlichen Lebensverhältnissen.
Damit ist der erste Prozesstag beendet. Leon Schwarzbaum sagt, bevor er die Sporthalle verlässt: „Ich habe mir etwas anderes erhofft. Kein Wort der Entschuldigung, kein Wort der Erklärung.“
Das Gericht hat Verhandlungstage bis in den Januar 2022 terminiert. Der angeklagte Josef S. gilt aufgrund seines hohen Alters als nur eingeschränkt verhandlungsfähig, weswegen ein Prozesstag maximal drei Stunden dauern wird. Im nächsten Monat wird S. 101 Jahre alt.
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