Prozess gegen Lina E.: Urteil verzögert sich
Im Prozess gegen vier Linksradikale entbrennt erneut Streit über die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen. Das Gericht unterbricht deshalb die Plädoyers.
In dem Verfahren wird Lina E. und drei Mitangeklagten – Lennart A., Philipp M., Jannis R. – vorgeworfen, eine kriminelle Vereinigung gegründet und zwischen 2018 und 2020 sechs schwere Angriffe auf Neonazis verübt zu haben. Die Bundesanwaltschaft hatte in ihrem Plädoyer dafür acht Jahre Haft für Lina E. gefordert und bis zu 3 Jahre und 9 Monate Haft für die Mitbeschuldigten. Die Verteidigung von Lina E. fordert dagegen allenfalls eine Verurteilung für eine versuchte Körperverletzung in Eisenach und für einen Diebstahl.
Am Donnerstagmorgen hatte nun Rita Belter, Anwältin des Mitangeklagten Lennart A., ihr Plädoyer begonnen. Sie kritisierte zunächst das Gericht, das im Prozess immer wieder die Verteidigung gegängelt habe, insbesondere sie selbst. Dann knöpfte sie sich den Anklagepunkt der kriminellen Vereinigung vor. Eine solche habe es nicht gegeben, betonte Belter. Weder habe es eine feste Gruppenstruktur gegeben noch konkrete Mitglieder oder fixe Aufgabenverteilungen.
Auch sei nicht nachweisbar, dass die angeblichen Kampfsporttrainings als Übungen für Angriffe gedient hätten. Alle Angeklagten seien deshalb für den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung freizusprechen, so Belter. Die angebliche Gruppe um Lina E. sei „ein Papiertiger“. Belter bezog sich dabei auch auf den Kronzeugen Johannes D., ein früherer Szenebekannter von Lina E. Auch dieser habe nur von einem flexiblen Personengeflecht gesprochen, aus dem heraus Angriffe auf Neonazis geschehen seien, so die Verteidigerin.
Beweisaufnahme wird neu aufgerollt
Zu einer vermeintlichen festen Gruppe um Lina E. habe Johannes D. nur Mutmaßungen geäußert. Zudem habe er in dem Prozess, der gegen ihn im Februar vor dem Landgericht Meiningen geführt wurde, die Trainings nochmal relativiert. Anders als vor dem Dresdner Gericht habe er dort nun behauptet, es sei dabei keineswegs um Angriffsübungen auf Neonazis gegangen. Richter Hans Schlüter-Staats reagierte auf diesen Punkt umgehend und verkündete, noch einmal in die Beweisaufnahme einzusteigen.
Er fragte Belter nach ihrer Quelle für die Aussagen von Johannes D. in Meiningen. Belter verwies auf ihren Quellenschutz als Anwältin, benannte aber einen Zeugen aus dem Publikum. Dieser war bei dem Prozess in Meiningen vor Ort und hatte ein Protokoll verfasst, das anschließend auf dem Blog von „Soli Antifa Ost“ veröffentlicht wurde, ein Unterstützerbündnis für Lina E. und die Mitangeklagten.
Prompt wurde der Mann in den Zeugenstand berufen. Dort wiederholte er, dass Johannes D. in Meiningen behauptet habe, die Trainings der Gruppe um Lina E. hätten nur „Sport, Spaß, sozialen Kontakten“ gedient. Schlüter-Staats hakte immer wieder kritisch nach und bemerkte später, dass dies in der Urteilsbegründung aus Meiningen anders stehe. Dennoch verkündete der Richter, nun auch den Vorsitzenden Richter und Oberstaatsanwalt aus dem Meininger Prozess gegen Johannes D. laden zu wollen.
Dies soll nun frühstens am 10. Mai passieren. Bis dahin pausiert der Lina E.-Prozess. Und: Bis dahin sind auch die Plädoyers unterbrochen. Nach den Zeugenaussagen müssen diese dann nochmal von vorne beginnen, wobei die Prozessbeteiligten auch auf ihre bisherigen Schlussvorträge verweisen und diese nur ergänzen können. Schlüter-Staats verkündete vorsorglich neue Termine bis zum 22. Juni.
Wie glaubwürdig ist der Kronzeuge?
Hinter dem Streit am Donnerstag steht einmal mehr die Frage, wie glaubwürdig der Kronzeuge Johannes D. ist. Die Bundesanwaltschaft hat daran keinen Zweifel und auf den Umfang und die angebliche Detailtiefe seiner Aussagen verwiesen. Die Verteidigung dagegen hält den 30-Jährigen für unglaubwürdig. Das Motiv seiner Aussagen sei klar gewesen, den Ermittlern „etwas zu liefern“, um so ins Zeugenschutzprogramm zu kommen und einen Strafrabatt zu erhalten. Hinter dem Streit steht aber auch eine fortgesetzte Auseinandersetzung zwischen der Verteidigung und dem Strafsenat, in dem sich beide Seiten nichts schenken. Immer wieder hatte Schlüter-Staats im Prozess Befragungen der Verteidigung unterbrochen und Anträge abgelehnt, immer wieder war es zu Wortgefechten gekommen.
Für Lennart A., dessen Plädoyer am Donnerstag eigentlich im Vordergrund stehen sollte, hatte die Bundesanwaltschaft drei Jahre und drei Monate Haft gefordert. Der Leipziger war nach einem Angriff auf den Eisenacher Neonazi Leon R. zusammen mit Lina E. in einem Fluchtauto gefasst worden. Seine Verteidigung fordert dagegen nur eine „bewährungsfähige Strafe“.
Belter verwies dabei auch auf diverse Prozesse gegen Rechtsextreme, bei denen diese mit Bewährungsstrafen davon kamen. So etwa nach brutalen Angriffen in Ballstädt, Fretterode, Dresden oder Connewitz. „Muss man Rechtsextremer sein, um eine Bewährungsstrafe zu bekommen?“, schloss Belter ihr Plädoyer. Im Publikum wurde das mit Applaus quittiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen