Proteste in Belarus: Nicht zu blocken
In Belarus sperrt die Regierung immer wieder das Internet. Der Messenger Telegram bleibt aber zugänglich – und wird zum Medium des Protests.
Netblocks.org, eine Aktivist:innengruppe, die sich für digitale Rechte und Cybersicherheit einsetzen, dokumentieren im Rahmen ihres „Internet Shutdown Observatory“ Internetausfälle und -blockaden. Für diesen Montagmorgen bestätigen sie den Vorfall. Die Regierung, so wird vermutet, drosselte das Internet, um die Verbreitung der Videos zu verhindern.
Es ist nicht das erste Mal, dass das Internet in diesen Tagen in Belarus blockiert wird. Die Ausfälle begannen mit der Präsidentschaftswahl am 9. August. Gegen 3 Uhr am Morgen des Wahlsonntags kam es zu den ersten Störungen. Das geht aus Beobachtungen von Netblocks.org hervor. Als die Wahllokale öffneten, seien immer mehr Seiten im Internet nicht mehr aufrufbar gewesen, heißt es. Dann traf es auch soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram und Twitter. Bis 20 Uhr hatte sich die Störung auf ganz Belarus ausgeweitet.
Schon Tage vor der Wahl forderten Aktivist:innen und NGOs die Lukaschenko-Regierung auf, freien Internetzugang während der Wahlen zu gewährleisten. Am Tag nach der Wahl machte Lukaschenko ausländische Kräfte für die Störungen verantwortlich. Die staatseigene Telekommuniaktionsfirma RUE Beltelecom behauptete außerdem, sie arbeite daran, die Ausfälle zu beheben und den Dienst nach „mehreren Cyberangriffen unterschiedlicher Intensität“ wiederherzustellen.
Telegram funktioniert auch bei instabilem Internet
Anna Litvinenko ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie forscht zu sozialen Medien und politischer Mobilisierung in autoritären Regimen. Am Tag der Wahl war sie selbst in einem belarussischen Dorf nahe der polnischen Grenze, die Internetblockade erlebte sie mit. Mit der Internetblockade wollte die Regierung die Deutungshoheit erlangen, sagt sie. „Die Idee war, dass die Leute sich nicht mehr im Internet vernetzen können und stattdessen den Fernseher einschalten.“ Geklappt hat das nicht.
Denn eine Messenger-App konnte weiterhin genutzt werden: Telegram. „Im Gegensatz zu vielen anderen Messengerdiensten funktioniert Telegram auch bei instabilem Internet“, sagt Aliaksandr Herasimenka, Doktorand an der Oxford University. Er forscht zu Telegram und dessen Einfluss auf Protestorganisation. Für ihn ist Telegram das entscheidende Instrument für die Proteste.
Da Telegram appbasiert ist und keine sogenannten http-Protokolle benötigt, um Daten zu übertragen, so Herasimenka, kann sie staatliche Internetblockaden weitestgehend umgehen. In den ersten Protesttagen sind Hunderte Telegram-Kanäle entstanden: für Regionen, Städte, Viertel und Straßen. Betrieben werden sie meist anonym und genutzt, um sich zu organisieren. Wo kann man sich treffen? Welche Hilfe wird benötigt?
Zu einem der wichtigsten Kanäle zählt „Nexta live“. Fast minütlich werden dort Videos hochgeladen, die dokumentieren, was im Land passiert. Gegründet wurde „Nexta“ vor zwei Jahren vom heute 22-jährigen Blogger Stepan Putilo, der im Exil in Polen lebt. Laut Putilo kuratiert den Kanal eine vierköpfige Redaktion. Mehr ist über die Mitarbeitenden nicht bekannt. Als das ganze Land offline schien, wurde „Nexta live“ zur Hautpinformationsquelle. Mittlerweile hat der Kanal über zwei Millionen Abonnent:innen. Im Vergleich: Tut.by, eine unabhängige Medienplattform aus Belarus, zählt gerade einmal knapp 350.000 Abonnent:innen.
Journalist:innen nutzen mittlerweile ausschließlich Telegram. „Viele unabhängige Medien haben im Grunde ihre Inhalte auf Telegram verlagert. Updates werden darüber verbreitet, nicht mehr über ihre Website“, sagt Herasimenka. „Was wir jetzt in Belarus sehen, ist, zumindest für Europa, ein neues Level an Koordination von Protesten durch Telegram“, sagt Litvinenko. Die Regierung wird wohl weiter versuchen zu blockieren. Und Telegram wird wohl online bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch