Exil-Belaruss:innen in Polen: Hoffnung am Rande der Tyrannei
Im polnischen Białystok hoffen Zehntausende geflüchtete Belaruss*innen auf einen Regimewechsel in Minsk. Und auf Strafprozesse gegen Schlägertrupps.
„Belarus wird nie wieder so sein wie vor den Protesten“, ist Pawel Latuschka überzeugt. Der ehemalige Kulturminister von Belarus und Botschafter in Polen und Frankreich gehört seit wenigen Wochen dem siebenköpfigen Vorstand des oppositionellen Koordinierungsrates in Belarus an. Der 47-Jährige mit den bereits vollkommen weißen Haaren spricht unaufgeregt und sehr eindringlich. „Eine Herzensrevolution ist nicht rückgängig zu machen. Es gibt für uns nur einen Weg: nach vorne!“
In der großen Aula der Universität zu Białystok in Nordostpolen könnte man eine Nadel zu Boden fallen hören, so still ist es. Dabei sind rund 200 Angehörige der belarussischen Minderheit gekommen, vor Kurzem zugereiste Belarussen sowie etliche Polen, die sich mit den Freiheitskämpfern im Nachbarland solidarisch erklären. Sie wollen wissen, wie die Lage ist und wie sie selbst helfen können.
Białystok gilt mit seinen 300.000 Einwohnern als „Hauptstadt der Belarussen“ in Polen. Die Mehrheit der knapp 70.000 Belarussen in Polen lebt an der Grenze zu Belarus in der Wojewodschaft Podlachien und der Großstadt Białystok.
Von hier aus senden das unabhängige Radio Racja und der konservative Fernsehsender Belsat in belarussischer, russischer und polnischer Sprache Nachrichten und Unterhaltung bis weit nach Belarus hinein. Hier sind etliche belarussische Organisationen und auch Verlage angesiedelt.
Beweise für Folter sammeln
Mehr Geschichten über das Leben in Belarus: In der Kolumne „Notizen aus Belarus“ berichten Janka Belarus und Olga Deksnis über stürmische Zeiten – auf Deutsch und auf Russisch.
Im rund 200 Kilometer entfernten Warschau befindet sich die zweite Hochburg belarussischen Lebens in Polen. Hier sind in den letzten Wochen mehrere Hilfsorganisationen für Folteropfer und politische Flüchtlinge entstanden.
„Was jeder von uns tun kann, ist das Sammeln von Beweisen für Morde, Vergewaltigungen, Folter und das ‚spurlose Verschwinden von Demonstranten‘“, so Latuschka. Die EU solle eine gute Kanzlei mit dem „Fall Belarus“ beauftragen. Dort sollten dann alle gesammelten Beweise ausgewertet werden, sodass die schlimmsten Verbrecher von einem internationalen Straftribunal abgeurteilt werden könnten.
„Wenn wir das nicht tun und wenn wir keine internationale Hilfe bekommen, können uns die Schläger der berüchtigten Omon-Truppen weiter foltern, ohne dass sie eine Strafe befürchten müssten.“
In einer Neubausiedlung Białystoks öffnet Marina Leszczenska am Spätnachmittag die Tür zu ihrem noch spartanisch eingerichteten Haus. „Für mich wäre Latuschka der ideale neue Präsident“, erklärt die Psychologin und Freiheitsaktivistin.
Die Politisierung der Unpolitischen
Vor fünf Jahren floh sie mit ihrem Ehemann und den zwei Kindern nach Polen. „Wir werden nicht nach Belarus zurückgehen, auch wenn es dort irgendwann eine parlamentarische Demokratie geben sollte“, bekennt die 36-Jährige. „Aber natürlich liegt uns das Schicksal unserer alten Heimat und das unserer Verwandten und Freunde in Minsk, Grodno und Brest sehr am Herzen.“
Seit den ersten Protesten gegen die offensichtliche Wahlfälschung in Belarus organisiert die schlanke Frau mit den langen dunkelbraunen Haaren die täglichen 18-Uhr-Demonstrationen vor dem belarussischen Generalkonsulat in Białystok.
Vor gut drei Wochen lief sie an der Spitze des großes Solidaritäts-Marsches: 20.000 Menschen zogen durch ganz Białystok, schwenkten die historische Fahne von Belarus in den Farben Weiß-Rot-Weiß, riefen „Lukaschenko, hau ab!“ und „Es lebe Belarus!“.
Jetzt hat sie Latuschka gemeinsam mit dem Abgeordneten Robert Tyszkiewicz nach Białystok eingeladen. „Ähnlich wie die Frauen-Führungsriege der Opposition in Belarus habe ich mich früher nicht für Politik interessiert.“
Hauptziel: freie Wahlen
Die Wahlfälschung und die erbarmungslose Härte gegen die friedlich demonstrierenden Menschen hätten dies geändert. Zum immer größer werdenden Netzwerk gehörten inzwischen auch einflussreiche polnische Politiker wie Tyszkiewicz, der als Vorsitzender des polnisch-belarussischen Parlamentsausschusses viele Strippen ziehen könne.
In der Aula fragt Igor auf Russisch, welche konkreten Ziele sich der Koordinierungsrat vorgenommen habe und ob Latuschka nach dem Machtwechsel eine Position für sich selbst in der belarussischen Politik sehe.
Dmitrij Siewko, Aktivist
Pawel Latuschka, Ex-Kulturminister von Belarus
Der antwortet im gleichen ruhigen Tonfall, aber auf Belarussisch: „Mit Swetlana Tychanowskaja an unserer Spitze streben wir einen Machtwechsel in Minsk an, das sofortige Einstellen aller Attacken auf belarussische Bürger, ein neues und unpolitisches Rechtssystem sowie freie und demokratische Wahlen.“ Über seine eigene politische oder berufliche Zukunft denke er zurzeit nicht nach. „Erst müssen unsere wichtigsten Ziele erreicht werden!“
Die Zuhörer reichen das Mikrofon von Hand zu Hand weiter bis in die letzte Reihe der Aula. Dort wartet Alexej geduldig: „Was ist mit den Soldaten, die Lukaschenko gegen uns eingesetzt hat?“, will er wissen. „Kommen die Befehlsempfänger auch vor das Straftribunal?“
Angst vor der Eskalation
Latuschka nickt. „Ja, denn jeder belarussische Staatsbürger kann heute selbst entscheiden, ob er ein Schläger, Vergewaltiger, politischer Richter sein will oder nicht.“ Nach einer kurzen Pause setzt er hinzu: „Wir versuchen als Opposition ins Gespräch mit Lukaschenko und auch Putin zu kommen. Sie stehen letztlich hinter all den Repressionen. Belarus soll ein freies und souveränes Land sein. Wir streben keine Mitgliedschaft in der EU an, wollen aber auch nicht Teil Russlands werden.“
Dmitrij Siewko, der ebenfalls zu den belarussischen Aktivisten in Białystok gehört, befürchtet, dass die Situation eskalieren kann: „Sie foltern dort sogar Kinder – ein 16jähriger Junge ist jetzt bei uns in Behandlung. Sie verhaften und prügeln Studenten, vergewaltigen Frauen. In dem Moment, wo Frauen und Kinder der Omon-Truppen unter den Opfern sind, werden die zu uns überlaufen – mit all den Waffen, die sie haben.“
Die Stimme des 34-Jährigen bricht, als er sagt: „Das ist mein größter Alptraum – unser Freiheitskampf wandelt sich in ein Blutbad! Hoffentlich haben Lukaschenko und Putin vorher ein Einsehen.“
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