Proteste in Albanien: Mollis und Rauchbomben
In der Hauptstadt Tirana kommt es bei einer Demonstration der Opposition gegen Korruption zu gewalttätigen Ausschreitungen.
Die Vorwürfe sind nicht neu. Korruption und Vetternwirtschaft, Wahlmanipulationen und fragwürdige Behördenentscheidungen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens stehen im Zentrum der Kritik.
Dabei wird jedoch verschwiegen, dass genau mit den gleichen Kritikpunkten die Sozialisten unter Edi Rama gegen die zuvor regierenden Demokraten angetreten waren. 2013 und 2017 trugen sie einen überragenden Wahlsieg davon. Die Sozialisten haben derzeit eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Bereits 2014 erreichten sie, dass Albanien ein Assoziierungsabkommen mit der EU abschließen konnte.
Seither müht sich die Regierung, die Auflagen der EU zu erfüllen. Das führt bisweilen zu schmerzhaften Einschnitten. Etwa im Justizsektor. Die Ende 2017 beschlossene Justizreform wird in Brüssel als erfolgreich bewertet. Viele Richter und Staatsanwälte, die die Herkunft ihres beträchtlichen, manchmal in die Millionen Euro gehenden Privatvermögens nicht erklären konnten, wurden geschasst.
Zu wenig Fachkräfte
Der Kahlschlag im Justizsystem führte jedoch auch zu Problemen. Bisher ist es nicht gelungen, das Verfassungsgericht des Landes mit genug ausreichend qualifizierten Richtern zu besetzen. Viele Verfahren können angesichts des Richtermangels nicht stattfinden. Nachwuchsausbildung braucht Zeit.
Genau wie andere Reformen in Gesellschaft und Wirtschaft. Es muss zudem genug integre Leute geben, die sie durchführen können. Die jahrhundertelange Fremdbestimmung im Osmanischen Reich und der Steinzeitkommunismus unter Enver Hoxha haben in der Gesellschaft eine Mentalität der Korruption und des Despotismus geschaffen, die bis heute tief verankert ist.
Auch bei der Opposition. Nach dem Sturz des Kommunismus 1991 ging es beiden politischen Lagern vor allem darum, ihre Anhänger an die Fleischtöpfe des Staates zu bringen und damit Loyalitäten zu erkaufen. Ein wirklicher Systemwandel findet ansatzweise erst seit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der EU statt. Albanien fehlt weiter eine politische Streitkultur, die Kompromisse nicht als Schwäche der anderen Seite auslegt, sondern als konstituierendes Element der Demokratie versteht.
Eine überparteiliche Einigung auf Reformen, die diese Forderungen erfüllen, wäre nach Meinung vieler Beobachter ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Nur so hätte die für Juni 2019 angestrebte Eröffnung von Beitrittsverhandlungen einen Sinn.
Gegen eine neue Stadtautobahn
Bei der Demonstrationsbewegung der vergangenen Tage und Monate steht wie gehabt die Konfrontation der beiden politischen Lager im Vordergrund. Doch neu ist, dass jetzt auch Gruppen mitdemonstrieren, die keinem der politischen Lager zuzurechnen sind. In den vergangenen Monaten gingen zum Beispiel Studierende in Tirana regelmäßig gegen die hohen Studiengebühren und die unzumutbaren Zustände in den Studentenwohnheimen auf die Straße.
Eine andere Protestbewegung will eine neue Stadtautobahn verhindern. 300 Familien protestieren so gegen den Abriss ihrer Häuser und Wohnungen. Künstler und Aktivisten protestierten zudem gegen den geplanten Abriss des Nationaltheaters im Herzen der Stadt.
Die Pläne für einen Neubau seien absolut nicht transparent, monieren sie. Andere Projekte wie der Bau eines Flughafens in Vlora oder von Staudämmen an bisher unberührten Flüssen, erregen aus den gleichen Gründen die Gemüter der sich entwickelnden Zivilgesellschaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee