Proteste gegen Corona-Schutzmaßnahmen: Eskalation mit Ansage
Im Bundestag polemisiert die AfD gegen ein Gesetz. Auf der Straße ist von „Ermächtigungungsgesetz“ die Rede. Die Polizei setzt Wasserwerfer ein.
D rinnen, im Plenum des Bundestags, hat die Debatte über das neue Gesetz noch gar nicht begonnen, da soll draußen, auf der Straße nahe dem Brandenburger Tor, schon wieder alles vorbei gewesen sein. Einige Tausend Coronaverharmloser haben sich dort niedergelassen, als die Polizei ihren Protest um kurz vor 12 Uhr für beendet erklärt, weil die Teilnehmer weder Abstände gehalten noch Mund-Nasen-Schutz getragen hätten.
Pfiffe ertönen, Buhrufe. Zwei Wasserwerfer rollen heran, die PolizistInnen ziehen ihre Helme auf. Eine halbe Stunde später kommen die Großgeräte zum Einsatz – das hat es in Berlin seit vielen Jahren nicht mehr gegeben. Immer wieder schießen die Beamten Wasser über die Köpfe der Demonstranten, setzen Pfefferspray ein, versuchen die Menge zurückzudrängen. Die Protestierenden antworten mit vereinzelten Flaschen- und Böllerwürfen, einige gehen auf Polizisten los. Die Menge skandiert „Widerstand“ und „Schämt euch“. Und sie weicht nur minimal zurück. Diese Art von Auseinandersetzung setzt sich über Stunden bis in den frühen Abend fort. Die Polizei schätzt die Menge auf eine hohe vierstellige Zahl. Sie spricht von etwa 200 Festnahmen.
Es ist ein Showdown, der sich in den letzten Tagen abgezeichnet hat – und den die Coronaprotestbewegung bewusst gesucht hat. Am Mittwochmittag verabschiedet der Bundestag das novellierte Infektionsschutzgesetz, ein Gesetz, mit dem die Coronaschutzmaßnahmen konkretisiert werden. Die Coronaprotestierenden aber machen daraus ein „Ermächtigungsgesetz“ und den Mittwoch zum „Tag der Entscheidung“ über eine „Gesundheitsdiktatur“. In Chatgruppen kursierten Aufrufe zu Gewalt und Blockaden, die Zeit des friedlichen Widerstands sei vorbei.
Und dann kommt es tatsächlich zu den Zusammenstößen mit der Polizei und dem Wasserwerfereinsatz. Der Protest in Berlin markiert damit eine neue Eskalationsstufe der seit Monaten währenden Proteste.
Alles vertreten: Bürgerliche, Reichsbürger, Neonazis
Bereits am Morgen hatten sich einige hundert Protestierende rund um den Bundestag eingefunden. Es sind bürgerlich daherkommende Menschen mit Luftballons, etliche von außerhalb angereist. Dazwischen bewegen sich aber auch Männer, die Fahnen tragen wie „Klagt nicht kämpft“. Reichsbürger, die einen „Friedensvertrag“ einfordern. Männer, die „Q-Army“-Pullover tragen. Und offen Rechtsextreme wie der NPD-Politiker Udo Voigt, Compact-Chef Jürgen Elsässer oder der „Volkslehrer“ Nikolai Nerling. Masken tragen nur die wenigsten, einige haben sich provokativ ein Netz vor den Mund gebunden, ein Mann einen Damenslip.
Die Polizei ist an diesem Tag vorbereitet. Rund um den Bundestag und die Reichstagswiese hat sie sich postiert und Gitter aufgestellt. Daneben reihen sich zu beiden Seiten die Polizeifahrzeuge. Schon um kurz nach acht Uhr morgens werden Tische aufgestellt, um Ingewahrsamnahmen bearbeiten zu können. Zwei Wasserwerfer rollen über die Straße des 17. Juni.
Für die Protestierenden gibt es kein Durchkommen. Am Vortag hatte das Bundesinnenministerium 12 Kundgebungen im „befriedeten Bezirk“ des Parlaments untersagt, die Polizei ein entschlossenes Vorgehen bei Verstößen angekündigt. Daran will man sich nun offensichtlich halten.
Am Morgen haben die ersten Demonstrant*innen die Rückseite des Brandenburger Tors erreicht. Sie sind mit Bussen aus Bingen am Rhein oder dem Allgäu angereist. Prediger halten Ansprachen durch Megafone.
Als die Polizei mitteilt, dass sie sich auf einer nicht genehmigten Versammlung befinden, setzen sich einige. „Friede, Freiheit, keine Diktatur“, lautet ihr Ruf. Eine junge Frau umklammert ihr Holzkreuz und schließt die Augen, während aus ihrer Box Xavier Naidoo „Ich will frei sein“ singt. Ein kleiner unbehelmter Greiftrupp der Polizei sucht derweil nach Störern. Mit als Ersten führt sie den Holocaustleugner und Youtuber Nikolai Nerling ab.
Um kurz nach 10 Uhr sind bereits mehrere tausend DemonstrantInnen vor Ort. Auf Abstände achtet niemand, Masken werden höchstens sporadisch getragen. Zu den Christen, ImpfgegnerInnen und EsoterikerInnen gesellen sich immer mehr erkennbare Rechte. Vor dem Sowjetischen Ehrenmal sammeln sich Nazis in Szenekleidung.
Ein Demonstrant in Berlin
An der Marschallbrücke, östlich des Bundestags, schreit sich ein Mann mit Megafon inmitten einiger hundert Demonstrierenden schon am frühen Morgen heiser. Die Coronamaßnahmen dieses „Verbrecherstaats“ müssten ein Ende haben. „Wer kennt Coronatote?“, brüllt er. „Bei uns in der Stadt gibt’s keinen einzigen.“ Er sei ein Monteur, 700 Kilometer angereist, auch bei den letzten Corona-Großprotesten dabei gewesen, sagt er auf Nachfrage. Die Coronapolitik sei „Panikmache pur“. „Wenn der Impfzwang wirklich kommt, werde ich kämpfen.“
Der Mann ist nicht allein. Der Ton ist noch einmal schärfer als bei früheren Protesten. Wurde dort Frieden und Freiheit eingefordert, wird nun vielfach „Widerstand“ und „Wir sind das Volk“ skandiert. Polizisten werden als „Schergen“ und „Volksverräter“ beschimpft, Journalisten als „Lügner“. Einige Demonstranten tragen Schilder mit Bildern von Angela Merkel oder Drosten und der Aufschrift „Schuldig“. „Wir werden die Stadt heute fluten“, ruft ein Redner vollmundig. „Wir dulden nicht, dass dieses Gesetz durchgedrückt wird.“
Vor dem Brandenburger Tor wächst die Menge derweil an, den Bundestag in Sichtweite. Eine Theaterpädagogin fordert in einem Lied „Nähe und Zärtlichkeit“ ein, fordert ein Umdenken der Politik, die sich „verrannt“ habe. Ein Demonstrant zischt: „Quatsch, mit denen kann man nicht friedlich reden. So wird das nichts.“
Eine genehmigte Kundgebung ist dieser Protest jedoch nur kurz. Der Anmelder heißt Alexander Ehrlich, ein Mann mit beigem Jacket und Hut. Er hat bereits einen Coronaprotest am Bodensee organisiert. Trotz des Verbots will Ehrlich am Morgen eine Bühne aufbauen. Nun beklagt er die „totale Kontrolle und Überwachung“ durch die Coronapolitik.
Als Ehrlich auf Geheiß der Polizei die Menge bittet, sich zu verteilen, und auf Abstände und Mundschutz hinweist, erntet er Pfiffe. „Wir bleiben hier. Die Musik spielt hier“, entgegnet ein Mann. Ehrlich resigniert. „Dann spricht jetzt eben das Volk, unorganisiert.“ Wenig später wird die Versammlung von der Polizei aufgelöst.
Der Protest erreicht den Bundestag
Von den Demonstrationen draußen ist im Plenum des Deutschen Bundestags nichts zu bemerken – zumindest scheinbar. Und doch reichen die Proteste bis in das Hohe Haus hinein, orchestriert von den Abgeordneten der AfD. Als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gegen Mittag ans Rednerpult tritt, kramen die AfD-Abgeordneten unter ihren Sitzen. Auf die freien Plätze zwischen sich stellen sie Plakate auf, die ein Grundgesetz mit einer Art Trauerflor zeigen. Dann schreitet auch schon Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ein, die Abgeordneten räumen die Plakate brav wieder weg.
Der Gesetzentwurf, der an diesem Mittwoch für so viel Wirbel sorgt, hat die Drucksachennummer 19/23944 und einen sperrigen Titel. Er heißt: „Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Geregelt werden darin viele Details, darunter die Ausweitung von Entschädigungsregeln bei Verdienstausfall für Eltern. Kritik richtet sich vor allem gegen den Paragrafen 28a. Dort werden Maßnahmen aufgelistet, die die Länder gegen das Coronavirus verordnen können – von der Maskenpflicht bis zum Verbot von Veranstaltungen. Alles Dinge, die es in der Vergangenheit bereits gab. Sie bekommen aber jetzt eine Gesetzesbasis. Auch werden die Länder künftig verpflichtet, ihre Verordnungen zu begründen.
Die Opposition hat den Gesetzentwurf dennoch scharf kritisiert. Die Regelungen seien weiter zu unbestimmt, die Grundrechtseinschränkungen massiv, die Beteiligung des Parlaments nicht ausreichend. Die Bundesregierung hat das Gesetz in kürzester Zeit durch das parlamentarische Verfahren getrieben. Der Bundestag stimmt am Nachmittag dem Gesetz mehrheitlich zu, der Bundesrat folgt binnen Stunden.
Vorher, schon zu Beginn der Sitzung sorgt die radikal rechte Partei für ein wenig Aufruhr im Plenarsaal. Bernd Baumann, Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Fraktion, fordert, dass der Gesetzentwurf zurück in die Ausschüsse verwiesen wird. Der Entwurf sei, sagt Baumann, „eine Ermächtigung der Regierung, wie es das seit etlichen Zeiten hier nicht mehr gab“ – und kassiert Buhrufe dafür. Seine Aussage ist gefährlich nahe an einem Vergleich mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933.
„Dieses Gesetz ist schlecht, aber es errichtet keine Diktatur“, hält FDP-Mann Marco Buschmann Baumann entgegen. Und Jan Korte von der Linkspartei wirft ihm vor, die Opfer der Diktatur zu verhöhnen.
Alexander Gauland entdeckt die Grundrechte
Eigentlicher AfD-Redner ist Fraktionschef Alexander Gauland, und der schlägt deutlich gemäßigtere Töne an. Gauland spricht von Vertrauen, zitiert den linksliberalen Publizisten Heribert Prantl, bezieht sich auf Aussagen der Juristin Andrea Kießling, die den Gesetzentwurf scharf kritisiert hatte. Kießling aber lässt später ausrichten, dass sie sich verbitte, von Gauland derart falsch zitiert zu werden. Ihre Äußerungen hätten sich gar nicht auf den aktuellen Gesetzentwurf bezogen.
„Das Infektionsschutzgesetz ist die größte Einschränkung der Grundrechte in der Geschichte der Bundesrepublik“, kritisiert Gauland und bringt in einem Halbsatz dann doch noch unter, dass das alles auf eine Diktatur hinauslaufen könne. Auch lobt er die Demonstranten vor dem Bundestag. „Sie treten für ihre Grundrechte ein und müssen nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden“, ruft Gauland in den Saal. Dann aber spricht er von den existenziellen Ängsten von Restaurantbesitzern und Künstlern, warnt vor staatlicher Überwachung wie in China und einer „indirekten Impfpflicht“. Die Abgeordneten seiner Fraktion applaudieren ihm stehend.
Gaulands Ton passt zur neuen Coronastrategie, auf die sich die AfD-Fraktion verständigt hat. Die Partei soll sich klar positionieren, aber nicht zu radikal. „Solche Aussagen können einer von der AfD geführten Debatte die Tür zu breiteren gesellschaftlichen Schichten öffnen, die für solche Argumente bisher nicht zugänglich waren“, heißt es in dem Strategiepapier, das der taz vorliegt.
Soll heißen: Mithilfe von Corona will die AfD den Zugang zu Milieus schaffen, die der Partei bislang kritisch gegenüberstehen. „Für mehr Eigenverantwortung! (Statt Maskenpflicht und Verhaltensregeln)“ oder „Für freiwillige Impfungen“, so sollen die Botschaften lauten.
Demonstranten in den Bundestag geschleust
Zu Beginn der Debatte sollen DemonstrantInnen in den Reichstag gebracht worden sein, heißt es. „Die AfD hat Personen ins Reichstagsgebäude eingeschleust, die Abgeordnete bedrängen“, twitterte der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle. „Das gehört unterbunden.“ Auch der grüne Sicherheitspolitiker Tobias Lindner twitterte von „mehreren Störern im Gebäude“, die Abgeordnete anpöbeln und Mitarbeiter bedrohen würden. „Unglaublicher Vorgang.“
Im Netz kursiert ein Video, das zeigt, wie eine Frau Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, der auf einen Aufzug wartet, filmt und dabei immer wieder zu ihm sagt: „Er hat kein Gewissen, dieser Mann.“ Laut Kuhle hat ihn die Frau auch angesprochen. Die Leute hätten einen Gästeausweis des Hauses getragen.
Am Vormittag mischen sich AfD-Abgeordnete unter die Demonstrierenden auf der Straße. Joana Cotar spricht von einem „bedrückenden Tag“, an dem die „Grundrechte beerdigt“ werden, und schaut dabei ganz fröhlich. Der Abgeordnete Karsten Hilse wird von der Polizei festgesetzt, weil er keine Maske getragen haben soll. Sein Parteikollege erklärt sich „solidarisch“ mit den Demonstrierenden. „Ist doch schön, dass so viele für ihre Freiheitsrechte demonstrieren.“ Und die Rechtsextremen und Gewaltaufrufe? „Wenn im Supermarkt, in dem ich einkaufe, ein Mörder ist, bin ich dann für den verantwortlich?“, wischt Udo Hemmelgarn die Verantwortung weg.
Hans-Jörg Müller, AfD-Abgeordneter
Hans-Jörg Müller, auch er AfD-Abgeordneter, steigt auf einen Klavierhocker und hält eine Rede. Hinter der Coronapolitik versteckten sich „die Finanz- und Pharmaindustrie“, ruft er. „Und im Bundestag sitzen die Marionetten, die alles nur noch umsetzen.“ Das Infektionsschutzgesetz sei die „Zementierung des Ausnahmezustands“, ein „Verrat an der Demokratie“, wettert er. Die Menge applaudiert, stimmt in Müllers „Wir sind Volk“-Rufe ein. Und der AfD-Mann genießt den Zuspruch. Das Spektrum der CoronaleugnerInnnen und die Partei sind spätestens an diesem Tag miteinander verschmolzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid