Programm der SPD zur Bundestagswahl: Ein etwas angenehmerer Alltag
Die Schulz-SPD hat viel getan, um die zufriedene Mitte und Lobbyverbände nicht zu verschrecken. Doch ihrem Steuerkonzept fehlt Entscheidendes.
Berlin, Juni, SPD-Wirtschaftsforum. Bosse und Genossen sollen hier vernetzt werden. Die Herren tragen dunkle Anzüge, die Damen Kostüm. Der Chef des Arbeitergeberverbandes BDI, Dieter Kempf, will schnelles Internet und warnt vor zu hohen Kosten für Umweltschutz. Organisator des Events in der hippen Humboldt-Box in Berlin-Mitte ist Michael Frenzel, ein distinguierter älterer Herr, SPD-Mitglied, früher Chef des Reisekonzerns TUI. Er sorgt sich um die „Wettbewerbsfähigkeit des Standort Deutschland“, ein angesichts des gigantischen Exportüberschusses recht luxushaftes Bedenken.
Frenzel warnt vor der Linkspartei. „Umverteilung“, sagt der Gründer des Wirtschaftsforums, „ist ja immer mit Neid verbunden.“ Das Wort Gerechtigkeit fällt hier nur in Verknüpfung mit „Leistung“. Viel anders klingt das beim Wirtschaftsrat der CDU auch nicht.
Es gibt nicht nur, wie schon oft bemerkt wurde, eine Sozialdemokratisierung der Merkel-CDU, sondern auch eine Christdemokratisierung der SPD. Viele Sozialdemokraten haben an der Politik der Großen Koalition wenig auszusetzen, hadern aber mit der Rolle als ewiger Juniorpartner. Und so rät Frenzel Martin Schulz zur Koalition mit Cem Özdemir und Christian Lindner.
Schulz sitzt in der ersten Reihe und verzieht bei diesem Rat keine Miene. Koalitionsdebatten stehen auf der Minusseite seiner ersten fünf Monate als SPD-Kanzlerkandidat. Erst liebäugeln mit Rot-Rot-Grün, dann nach der Saarland-Wahl ein hektischer, wirrer Schwenk zur Ampel. Danach fragten sich in der Partei manche, wie man Korrekturen an der Agenda 2010 ausgerechnet mit der FDP durchsetzen will.
Keine Hysterie
Schulz eilt ans Rednerpult, wirft einen knappen Blick auf sein Manuskript und sagt: „Diese Rede halte ich jetzt nicht. Ich werde spontane Anmerkungen machen.“ Dann folgt der große Schulz-Bogen, von Trump zur steuerlichen Absetzbarkeit von Forschung für Unternehmen, von Europa über China bis zur Digitalisierung. Schulz vibriert vor Dringlichkeit, ballt die Faust, wenn es den Freihandel zu loben gilt, hebt den Zeigefinger, wenn er den Exportüberschuss Deutschlands verteidigt oder kostenfreie Kitas fordert. Ein halbes Dutzend Mal entdeckt er „Gemeinsamkeiten“ mit dem BDI-Chef, dem er „dankbar ist, dass er auf die Struktur der Gewerbesteuer hingewiesen“ hat.
Ein paar Tage später setzt Schulz die Charmeoffensive in Richtung Wirtschaft beim BDI-Kongress fort. Mit Erfolg. Jedenfalls sieht es so aus. Die Reaktion der Eliten auf das Steuer- und Rentenkonzept der SPD ist verhalten. Das übliche Genörgel von Verbänden. Aber keine Deutschland-geht-unter-Hysterie.
Wie würde die Republik aussehen, wenn die SPD ihre Ideen eins zu eins umsetzen würde? Superreiche würde etwas mehr Steuern zahlen, Normalverdiener etwas weniger. Die Löhne würde ein wenig steigen, die Kitas wären kostenlos, die Bundeswehr bekäme etwas mehr Geld. Die kräftigste Umverteilung versteckt sich hinter dem sperrigen Begriff „Paritätische Finanzierung des Gesundheitssystems“. Die wurde mit SPD-Beteiligung abgeschafft. Seitdem zahlen Arbeitnehmer mehr, Arbeitgeber weniger.
Das zu korrigieren würde die Unternehmer laut Berechnungen des DGB sieben Milliarden im Jahr kosten. Arbeitslosengeld Q, Familiengeld und Familienarbeitszeit, Parität bei der Gesundheit, all das summiert sich zu einem etwas angenehmeren Alltag für Durchschnittsdeutsche. Aber das Meiste klingt kompliziert, kleinteilig, technokratisch.
Lohn für deutschen Fleiß
In der EU würde Deutschland unter Kanzler Schulz weiter vom Euro profitieren, ohne per Eurobonds andere Staaten zu stabilisieren. Schulz kündigt zwar Investitionen in der EU an – aber in welchem Umfang, ist unklar. Sie wären wohl, wie alles in diesem Programm: ein bisschen halt. Martin Schulz redet über Europa, das einzige Thema, bei dem er sich wirklich auskennt, seltsam blass. Sogar Wolfgang Schäuble, Lieblingsfeind der Linken in Europa, befand kürzlich, dass der deutsche Exportüberschuss um 50 Prozent zu hoch sei – Schulz feiert Exportüberschüsse unverdrossen als Lohn für deutschen Fleiß. „Er ist aus Brüssel die große Koalition mit Juncker gewohnt“, sagt ein Genosse ratlos.
Wo es um richtig viel Geld geht, hat die SPD das, wie bei der Rente, in die Zukunft verlegt – 30 Milliarden Steuerzuschuss werden erst 2029 fällig, um das Rentenniveau zu stützen. Auch bei der Erbschaftssteuer wird es vage. Christine Lambrecht, parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, hält das Steuerkonzept für „plausibel und ausgewogen“. Viel Geld soll eine umfassende Erbschaftssteuer bringen. Doch „konkrete Zahlen“ nennt Lambrecht nicht – so wenig wie das von der Parteispitze mehrfach als genau kalkuliert gerühmte Konzept. Bloß nicht zu deutlich werden.
Kurzum: Die Republik, die Martin Schulz regiert, wäre ein bisschen weniger ungleich. Und ziemlich nah an dem, was jetzt ist.
Die Schwerkraft der Verhältnisse
Am Sonntag wird die SPD in Dortmund dieses Programm beschließen. Die Jusos werden wohl rebellieren und die Vermögenssteuer fordern – aber das wird wohl eher Parteitagsfolklore. Die SPD, in der die Flügel schwungvoll um die Richtung ringen, ist nur noch ein schwach glimmendes Klischee von früher. In sieben Stunden wird der Parteitag das Programm – trotz 1.600 Änderungsanträgen – wohl mehr oder weniger durchwinken. Geschlossen und effektiv. Fast wie die Union.
Der SPD fehlt etwas – Leuchtkraft, ein Symbol. Und die überschießende Energie, ohne die erfahrungsgemäß alles bleibt wie es ist, weil die Schwerkraft der Verhältnisse mächtiger ist.
Eine schillernde Idee hat Arbeitsministerin Andrea Nahles entwickelt. 20.000 Euro für alle, die dieses Geld für Bildung, Unternehmensgründung oder auch Sabbaticals ausgeben wollen. Das klingt knalliger als paritätische Finanzierung. Und realistischer als kostenlose Kitas, für die die Bundesländer zuständig sind. Nahles’ Vorschlag verknüpft Selbstbestimmung und Staat auch eleganter als andere SPD-Ideen. Und sie richtet sich an Jüngere. Doch diese Idee fehlt im Wahlprogramm.
Am liebsten würde Alina Lanisch ihre Mutter niemals wiedersehen, zu oft wurde sie verletzt. Ihre Mutter ist manisch-depressiv. In der taz.am wochenende vom 24./25. Juni schreibt sie über die Hilflosigkeit einer Tochter, die nie eine Tochter sein konnte. Außerdem: Ein Ex-SED-Funktionär gibt sich als jordanischer Honorarkonsul aus und lebt viele Jahre in einem Schloss. Und: Neil Harbisson ist der erste anerkannte Cyborg der Welt. Im Gespräch erzählt der Brite, wie der Himmel klingt. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Beim BDI und beim Wirtschaftsforum wirkt Martin Schulz wie ein tänzelnder Boxer, der wartet, dass die Konkurrenz in den Ring steigt. Schulz ist nicht Minister im Kabinett geworden, um Abstand zur Großen Koalition zu wahren. Aber Angriffe auf Merkel sind bisher rar. Er stichelt, dass die Union wenig zu bieten hat. Mehr nicht. Er wartet, dass Merkel endlich aus ihrer Ecke kommt.
Sein Mantra
Aber das kann eine böse Überraschung werden. Merkel ist darin geübt, Angriffe abzufedern, und den Gegner mit Flexibilität zu entwaffnen. Bei mehr staatlichen Investitionen, dem Mantra von Martin Schulz, hat sie Entgegenkommen angedeutet, bei der rascheren Abschaffung des Soli auch, bei Rente und Erbschaftssteuer nicht. Der Disput mit Merkel, den Schulz ungeduldig herbei sehnt, kann so kleinteilig werden wie es das SPD-Programm jetzt schon ist.
Ziemlich ernüchternd ist für die SPD eine aktuelle Umfrage des Allensbach-Institutes. Nur 23 Prozent glauben, dass eine SPD geführte Regierung etwas anders machen würde, 60 Prozent sehen zwischen der Merkel und Schulz wenig Unterschiede.
„Merkel wird alles tun, um uns rhetorisch und inhaltlich zu neutralisieren“, sagt ein Wahlstratege im Willy-Brandt-Haus. Dort hofft man auf Querschüsse der CSU – nicht bei der stillgelegten Debatte um die Obergrenze für Flüchtlinge, sondern bei Merkels Dehnungsübungen Richtung SPD-Programm. Doch im Wahljahr passt zwischen CDU und CSU bislang kein Löschblatt.
Theoretisch mögliches offenhalten
Marco Bülow, SPD-Linker und Bundestagsabgeordneter aus Dortmund, sagt: „Uns fehlen Kristallisationspunkte. Das muss nicht die Vermögenssteuer sein, es kann auch Bürgerversicherung oder eine niedrigere Mehrwertsteuer sein.“ Es mangelt an einer griffigen Idee, so wie es der Mindestlohn war. Bülow fordert: „Wir müssen eine Alternative zur Union bieten – und kein Programm, das in der nächsten Großen Koalition wieder weggewischt wird. Manche kapieren nicht, dass wir die Herausforderer sind.“
Ganz schlimm wird es, wenn Schulz mit starrem Blick auf die Mitte den Fehler von Hannelore Kraft wiederholen sollte und eine Koalition mit der Linkspartei ausschließt. Dass Rot-Rot-Grün in Berlin regieren wird, ist ungefähr so wahrscheinlich wie dass Hannover 96 deutscher Meister wird. Aber eben – theoretisch möglich. Falls auch das noch ausradiert wird, „kann uns der Wahlkampf wegbrechen“, fürchtet ein SPD-Stratege. Denn die Genossen, die vor Ort, von Haustür zu Haustür ziehen sollen, sind oft Parteilinke, die wenig Lust haben, für Merkels Vizekanzler Klinken zu putzen.
Die Gefahr, das merken manche in der SPD, ist es nicht, die Zufriedenen mit radikalen Ideen zu verschrecken. Die Gefahr ist es, über kein Mittel gegen Merkels Staubsauger zu verfügen. „Da muss mehr kommen“, sagt der SPD-Linke Bülow. Immerhin aber sei „Martin Schulz nicht beratungsresistent“.
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