Profiboxen als Paradox: Scheiße im Stall
Das Profiboxen stellt sich quer zum Zeitgeist, wie Schwergewichtler Tyson Fury beweist. Das ist nur auf den ersten Blick unverständlich.
W as ist eigentlich mit dem Boxsport los? Der weigert sich beharrlich, im doch eher tugendhaften und braven 21. Jahrhundert anzukommen. Das Boxen will sich auch im Jahr 2021 nicht seiner atavistischen und regressiven Anteile entledigen. Die Amateurboxer stehen unter ständiger Beobachtung des Internationalen Olympischen Komitees und dürften nicht überrascht sein, wenn sie mit weiteren Sanktionen rechnen müssen. Und die Profiboxer machen da weiter, wo sie immer schon aufgehört haben.
Der schlagende Beweis für die Unbelehrbarkeit der Branche ist der britische Schwergewichtler Tyson Fury, der an diesem Wochenende gegen den US-Amerikaner Deontay Wilder antritt, um seinen WBC-Gürtel zu verteidigen. Fury, der einer boxenden Familie irischer Traveller entstammt und sich deswegen Gipsy King nennt, steht mit all seiner imposanten Erscheinung für einen Typus, der in den Kreisen woker Weltverbesserung für schieres Entsetzen sorgen dürfte.
Der sicherlich 120 Kilogramm schwere Fury, der in seinen Kämpfen nicht immer austrainiert wirkte und deshalb auch den Beinamen „Weicher Riese“ tragen könnte, ist nicht nur weiß, er ist auch ein Mansplainer, ein Sexist, er ist offensichtlich homophob, ein Dopingbetrüger und großmäuliger Aufschneider. Trotz all dieser Kennzeichnungen, die einen Normalsterblichen ins gesellschaftliche Aus katapultieren würden, ist Fury besser denn je im Geschäft. Er scheffelt Millionen von Dollar, und nun steht er in Paradise/Nevada im Ring, um seinen Gegner zu verhauen.
Wilde Beschimpfungen
Das alles spricht dafür, dass eine sonst überkritische Öffentlichkeit dem Profiboxen einen besonderen Raum zugesteht, einen Topos, für den radikal andere Regeln gelten: die des (alten) Showbusiness. Was hier gesagt, was hier getan wird, ist erstens nicht ganz ernst zu nehmen, und zweitens laufen die Prozesse auf der Ebene des So-tun-als-ob ab. Hier gehen, räumlich und zeitlich begrenzt, Dinge, die anderswo verpönt sind.
Es funktioniert wie eine Peep Show, in der man durch ein Guckloch das kollektive Unbewusste des Sports anglotzen kann – in einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Tyson Fury gibt sich wirklich alle Mühe, sein Geld wert zu sein. Wilder, den Fury auf einer Pressekonferenz vorm Fight abwechselnd als „Penner“, „Stück Scheiße“ oder „Pussy“ herabwürdigte, könne sich einfach nicht eingestehen, dass seine Karriere vorbei sei.
Zweimal bereits habe er von Fury „den Arsch versohlt“ bekommen und sei „nicht Manns genug“, irgendetwas dagegen zu unternehmen. „Nach diesem Kampf wirst du wieder bei der Fast-Food-Kette arbeiten, bei der du zu Beginn deiner Karriere warst“, tönte Fury. Es ist das übliche Ballyhoo vor der Verhaue, das testosterongesteuerte Herumposaune, könnte man sagen – wenn es nicht gegen alle Benimmregeln der heutigen Zeit verstößen würde.
Fury sprach sich für die Freigabe von Doping aus und nahm, als seine Forderung ungehört blieb, zweimal verbotene Mittelchen ein. Er warf Wilder vor, Eisenstücke in die Handschuhe getan zu haben, und geradezu berüchtigt ist dieses Zitat: „Es gibt nur drei Dinge, die erreicht werden müssen, bevor der Teufel nach Hause kommt. Eines davon ist die Legalisierung von Homosexualität, eines ist Abtreibung und das andere ist Pädophilie. Wer hätte in den 50ern und 60ern Jahren gedacht, dass die ersten beiden legalisiert werden würden.“
Tyson Fury wurde 2015 trotz dieser Entgleisung in England zur „Sportpersönlichkeit des Jahres“ gewählt. Dem ging eine maue Entschuldigung voraus. Bleibt also festzuhalten: Das Profiboxen ist ein Augiasstall, in das die Kärchertrupps des Neuzeitlichen die Flüsse Alfios und Pinios leiten sollten. Der Mist könnte freilich im Stall picken bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Fortschrittsinfluencer über Zuversicht
„Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“