Probleme der russischen Armee: „Sehr inadäquat ausgerüstet“
Russlands Streitkräfte werden in der Ukraine aufgerieben. Niemand scheint den Überblick zu haben. Selbst auf russischer Seite nimmt die Kritik zu.
Die Tür des Kühlwagens öffnet sich, die Kamera richtet sich auf einen Haufen weißer Säcke. Darin liegen Leichen – etwa 40 zurückgelassene russische Soldaten der Schlacht um Kiew, mit russischen Papieren und Orden. Russland weigere sich, seine Toten zurückzunehmen; man werde sie aufbewahren, erklärt ein ukrainischer Soldat.
Die vor wenigen Tagen in internationalen Fernsehsendern ausgestrahlte Szene ist einer von vielen Bausteinen des Desasters, das die Invasion der Ukraine für Russland selbst darstellt. Knapp 26.000 Tote soll die russische Armee nach ukrainischen Angaben seit Kriegsbeginn am 24. Februar zu beklagen haben. Russland selbst hat nur zweimal Gefallene bestätigt, zuletzt 1.351 Tote am 25. März, kurz vor dem Rückzug von der Kiewer Front.
Rund 120 Kampfgruppen waren nach US-Angaben zu Kriegsbeginn in der Ukraine im Einsatz – von 168, die Russlands Armee insgesamt aufzubieten hat. 93 davon sind noch übrig, schätzte das US-Verteidigungsministerium am 3. Mai. Viele sind kaum kampffähig, da sie zu viele Soldaten und Material verloren haben.
Justin Bronk vom britischen Royal United Services Institute schreibt in einem Beitrag für die Daily Mail: „Jede russische Kampfgruppe (BTG) hat 700 bis 900 Soldaten. 200 davon sind Infanterie, weitere 150 sind Fahrzeugbesatzungen für die 10 Panzer und etwa 40 weiteren Panzerfahrzeuge, die die mobile Offensivkraft der BTG ausmachen. Die Zehntausenden Toten gehören vor allem zur Infanterie und zu den Fahrzeugbesatzungen, die am exponiertesten sind.“ Fehlen sie, ist die Kampfgruppe nicht mehr voll mobil, wie sich aktuell am Stillstand an den meisten Fronten des Donbass’ zeigt.
Rückzug rund um Charkiw
Mittlerweile befinden sich die russischen Einheiten rund um Charkiw großflächig auf dem Rückzug. Es ist der zweite wichtige ukrainische Sieg nach dem Rückzug Russlands aus der Region um Kiew und dem Norden der Ukraine.
Der einstige Donbass-Separatistenführer Igor Girkin, der sich seit Kriegsbeginn über die mangelnden Leistungen der russischen Armee ärgert, bilanzierte Anfang dieser Woche: „Der Rückzug schlecht ausgestatteter Reservisten auf neue Positionen, viel weiter von Charkiw entfernt, ist jetzt abgeschlossen. Mancherorts erfolgte er ohne Druck des Feinds, andernorts als Ergebnis direkten Drucks auf sehr inadäquat ausgerüstete und völlig unerfahrene oder untrainierte Einheiten in Unterzahl.“ Am Donnerstag warnte Girkin: „Bald werden ukrainische Saboteure beginnen, sich nach Russland einzuschleichen.“
Von der Ukraine publizierte Aussagen russischer Gefangener und geleakte Dialoge zwischen russischen Soldaten und ihren Ehefrauen auf russischen Telegram-Kanälen sind voller Klagen. Ein Kriegsgefangener von der Front bei Rubizhne berichtet, seine Kampfgruppe setze an der Front Tschetschenen ein, „wir graben uns hinten ein“, und: „Etwa zwanzig von uns sind noch übrig. Jeden Tag schicken sie Reservisten, und jeden Tag verlieren wir Leute.“
Am Mittwoch dieser Woche verlor die russische Armee an der Front von Severodonezk 73 Fahrzeuge, darunter den kompletten Fuhrpark einer Kampfgruppe samt Besatzungen, als diese beim Überqueren des Flusses Donezk auf einer behelfsmäßigen Brücke Richtung Süden von ukrainischen Streitkräften beschossen und versenkt wurden – einer der schwersten einzelnen Verluste Russlands in diesem Kriege.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die beiden „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk erweisen sich als besondere Schwachpunkte der russischen Offensive, weil sie formal parallele Kommandostrukturen zu denen Russlands besitzen. Dazu kämpfen an den Donbass-Fronten private Kämpfer der Wagner-Söldnerfirma und Milizionäre aus Tschetschenien. Niemand scheint den Überblick zu haben – mitten im Krieg, bei täglich steigendem ukrainischen Druck.
Unbestätigten Angaben zufolge laufen jetzt umfassende Umbesetzungen in den höheren Offiziersrängen der russischen Armee. So etwas vergrößert jedoch kurzfristig eher das Durcheinander.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen