Pro-Asyl-Juristin über neue EU-Verordnung: „Ein ständiger Ausnahmezustand“
Die EU-Staaten haben sich auf einen harten Kurs in der Asylpolitik geeinigt. Nun könnte es noch schlimmer kommen, befürchtet Wiebke Judith von Pro Asyl.
taz: Frau Judith, erst Anfang Juni haben die EU-Innenminister sich auf eine drastische Verschärfung der gemeinsamen Asylpolitik geeinigt. Jetzt schlagen Pro Asyl und andere Menschenrechtsorganisationen schon wieder Alarm, diesmal wegen der sogenannten Krisenverordnung. Warum?
Wiebke Judith: Im Juni haben sich die EU-Innenminister*innen auf die großen Linien verständigt, mit der viele der schlechten Praktiken der letzten Jahre in Recht gegossen werden sollen. Eine besonders gefährliche Verordnung stand da aber noch nicht zur Debatte. Die wird derzeit unter den EU-Staaten verhandelt und von der spanischen Ratspräsidentschaft vorangetrieben: Mit der Krisen- und Instrumentalisierungsverordnung könnte an den EU-Außengrenzen bald ständig eine Art Ausnahmezustand herrschen.
ist Rechtspolitische Sprecherin bei Pro Asyl.
Für die Schutzsuchenden dürfte sich die Situation damit noch weiter verschlechtern – weit über das hinaus, worauf sich die EU-Innenminister*innen schon geeinigt haben. Es droht die Verschärfung der Verschärfungen.
Was genau steht in der neuen Verordnung?
Der Entwurf fasst bisher getrennte Pläne für verschiedene Szenarien zusammen. Es geht um Ausnahmeregeln, die dann gelten sollen, wenn an den Außengrenzen eine Krise eintritt, ein anderer Staat Geflüchtete instrumentalisiert oder in Fällen „höherer Gewalt“. Dann sollen zum Beispiel deutlich mehr Geflüchtete in die neuen Grenzverfahren genommen werden können als bisher geplant.
In diese Schnellverfahren unter Haftbedingungen sollen nach der Einigung vom Juni eigentlich nur solche Geflüchteten kommen, die aus Ländern stammen, deren Asylanerkennungsquote unter 20 Prozent liegt. Und unbegleitete Kinder sind ganz ausgenommen.
Diese Ausnahmen werden mit der Krisenverordnung hinfällig. In Krisenfällen sollen Asylbewerber*innen aus Staaten mit einer Anerkennungsquote bis 75 Prozent in die Grenzverfahren kommen, im Instrumentalisierungsfall sogar alle. Es ist ziemlich unrealistisch, dass alleinfliehende Kinder hier in der Praxis ausgenommen wären.
Außerdem sollen die Verfahren bis zu 20 Wochen dauern dürfen und die Unterbringungsstandards massiv abgesenkt werden. Letztlich kann es mit Asylgrenzverfahren und Abschiebungsgrenzverfahren bis zu 10 Monate Haft geben. Katastrophale Bedingungen sind so programmiert.
Grenzübergänge sollen aber auch ganz geschlossen werden können und die präventive Überwachung gestärkt werden, um Grenzübertritte zu verhindern. Und auch die Registrierung neuer Asylgesuche soll laut der Verordnung um Wochen verzögert werden können. Das deckt und legitimiert die Praxis illegaler Pushbacks, weil Betroffene einfach nicht mehr im System auftauchen. So kann man sich nur sehr schwer wehren.
Krise, Instrumentalisierung, höhere Gewalt – Was verbirgt sich hinter diesen Bezeichnungen für Situationen, in denen die Verordnung gelten soll?
Als Krise gilt laut der Verordnung die Situation, in der eine sehr große Anzahl von Menschen einen Asylantrag stellen will, sodass das Aufnahmesystem in Gefahr ist. Die Kommission meint damit wohl eine Situation wie 2015, als über eine Million Syrer*innen in die EU flohen. Mit Instrumentalisierung ist dagegen ein Fall gemeint, wie wir ihn an Grenze nach Belarus haben.
Der belarusische Diktator Alexander Lukaschenko flog Geflüchtete ein und schickte sie über die Grenze nach Polen, Litauen und Lettland, um Druck auf die EU auszuüben…
Genau. Ein anderes Beispiel wäre wohl die Situation an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei im Februar und März 2020 gewesen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nutzt Geflüchtete immer wieder, um die EU-Staaten zu erpressen.
Das Fatale bei dem Ansatz der Krisenverordnung ist, dass die Maßnahmen ausgerechnet gegen die schutzsuchenden Menschen zielen, die in solchen Fällen oft zwischen zwei Staaten in Grenzregionen zerrieben werden. Der Ausnahmezustand an der europäischen Grenze zu Belarus hat zu mehreren Toten und unsagbarem Leid geführt – das kann und darf nie akzeptiert werden.
Und die „höhere Gewalt“?
Was damit gemeint ist, wird einfach nicht definiert. Das ist hochproblematisch. Woher sollen wir am Ende eigentlich noch wissen, welches Recht wo und warum gilt?
Braucht es aber nicht Möglichkeiten, um auf Extremfälle an den EU-Außengrenzen reagieren zu können?
Wenn die EU-Staaten gut auf Krisen und überhaupt die Aufnahme von Schutzbedürftigen vorbereitet wären, dann wäre das nicht nötig. Nehmen wir die Situation an der Grenze zu Belarus. Die Krise dort wurde ja erst dadurch hervorgerufen, dass Polen kein Schutzsystem für die Geflüchteten hat und der EU ein funktionierender Verteilmechanismus fehlt. Wenn die Asylbewerber*innen einfach aufgenommen und verteilt würden, wäre man ja gar nicht erpressbar.
Im Übrigen gibt es auch jetzt schon im Recht gewisse Vereinfachungen in Ausnahmesituationen – aber eben noch eng umrissen und auch nur so vom Gerichtshof der Europäischen Union akzeptiert.
Wie stehen die Chancen, dass die Verordnung tatsächlich beschlossen wird?
Eine Entscheidung soll es am Mittwoch, 26. Juli, auf Ebene der ständigen Vertreter in Brüssel geben. Dass die Regierungen der EU-Staaten inzwischen zu sehr harten Schritten bereit sind, haben wir schon im Juni gesehen. Die deutsche Bundesregierung muss dieses Mal aber eine rote Linie ziehen und darf die Krisenverordnung – jetzt und später – nicht akzeptieren.
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