Präsidiale Rede von Julian Nagelsmann: Ein Auge auf Deutschland
Das Miteinander im DFB-Team soll nach Julian Nagelsmann Vorbild für die deutsche Gesellschaft sein. Es ist eine Überhöhung und ein schiefes Bild.
Wie famos würde wohl eine deutsche Gesellschaft aussehen, die von Julian Nagelsmann trainiert würde? Das hat sich vielleicht mancher überlegt, als der Bundestrainer am Tag nach dem Ausscheiden seiner Fußballmannschaft zu einer Rede ansetzte, die eine Mischung war aus dem „Wort zum Sonntag“ und einer bundespräsidialen Weihnachtsansprache. Roman Herzog, wenn er noch leben würde, hätte sich vielleicht an seine eigene berühmte Rede („Es muss wieder ein Ruck durch Deutschland gehen“) erinnert gefühlt.
Nagelsmann geißelte wie schon direkt nach dem Spiel in Stuttgart die depressive gelähmte Stimmung im ganzen Land. „Wenn wir immer nur in Tristesse verfallen, und alles ist grau und alles ist schlecht, dann wird sich keiner verbessern.“ Er rief zu mehr Gemeinsinn auf und erinnerte an frühere Zeiten, als die Menschen einander zugewandter waren, was durchaus auch von praktischem Nutzen war. „Wenn ich meinem Nachbar helfe, die Hecke zu schneiden, dann ist er schneller fertig, als wenn er es alleine macht.“
Von mancher Kirchenkanzel in diesem Land sind vielleicht schon ähnliche Bilder entworfen worden, nur mit deutlich geringerer Reichweite. Nagelsmann versteht seine Arbeit offensichtlich nicht nur als Job, sondern als eine Art gesellschaftliche Berufung. Das verdeutlichten die sichtbar starken Emotionen, die seine Augen während seiner Ausführungen feucht werden ließen.
Die Relevanz des Fußballs, sagte er, sei zwar vergleichsweise gering, er könne aber Vorbild sein. Es sei bei diesem Turnier gelungen, eine Symbiose zwischen der Mannschaft und den Menschen im Land zu schaffen. „Und ich hoffe, dass wir es auch nachhaltig hinbekommen, diese Symbiose in weit wichtigeren Bereichen fortzusetzen.“
Aufgeblasen und fast substanzlos
Es ist durchaus zu begrüßen, wenn sich Vertreter der selbstbezogen Fußballsphäre zur Realität verhalten und Position beziehen, wie es etwa Kylian Mbappé oder Marcus Thuram während des Turniers vor den Wahlen in ihrem Land getan haben. Aber die Rede von Nagelsmann war von so gutgemeinter allgemeiner Aufgeblasenheit, dass am Ende kaum etwas übrig geblieben ist, was man als Substanz bezeichnen könnte. Appelle für mehr Integrationsbereitschaft und eine notwendige Willkommenskultur waren schon die wenigen halbwegs klaren Botschaften. Dass es der Gesellschaft besser ginge, würden alle wie beim deutschen Nationalteam gemeinsam anpacken, um nach Lösungen zu suchen statt nach Problemen, all das ist in Zeiten extremer Polarisierung von doch zu großer Einfältigkeit.
Dieses Bild wäre nur belastbar gewesen, hätte Nagelsmann auseinandergedröselt, wer denn im DFB-Kader zu den AfD-Anhängern, wer zu den Verschwörungstheoretikern, wer zum Team Habeck und wer zur den Klima-Aktivisten der Letzten Generation zählt. Am spannendsten wären dabei natürlich die Hinweise gewesen, wie er diese heterogene Gruppe zu einem Ensemble geformt hat, das sich am Wochenende nur unter Tränen voneinander trennen konnte.
Vielleicht ist es unfair, dieser Rede des Bundestrainers zu genau auf den Grund zu gehen, weil sie aus einer emotionalen Ausnahmesituation heraus vorgetragen wurde. Aber Julian Nagelsmann ist genau in die Falle getappt, in die er nicht reintreten wollte. Die Überhöhung der Bedeutung von Fußballergebnissen für gesellschaftlichen Wandel haben diejenigen vorangetrieben, die vor dem Turnier davon fantasierten, mit einem guten deutschen Abschneiden bei der Europameisterschaft könnten Zustände wie im Jahr 2006 wieder einkehren. Als ob dadurch die Erfolge von Rechtsextremisten, der Ukrainekrieg, die Pandemie, das Fortschreiten der Klimakrise und vieles mehr vergessen gemacht werden könnte.
Nagelsmann hatte vor dem Turnier vor einer politischen Überfrachtung des Turniers gewarnt: „Ich würde mir wünschen, dass man das Team aus allen Debatten heraushält.“ Aber wem so viel Bedeutung zugemessen wird, der kann schon mal schwach werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“