Postsowjetische Menschen in Deutschland: Irrwege und Lektionen
Rund 3,5 Millionen postsowjetische Migrant*innen leben hier. Lange waren sie unsichtbar – anders als heute. Wurden ihre Warnungen gehört?
Krieg in der Ukraine – für uns war er schon immer da. Seit acht Jahren, im Donbass: physisch. Viel länger: psychisch. Die Deutschen haben den Krieg nicht kommen sehen, aber wir haben ihn kommen gefühlt. Die Angst vor einem großen Krieg lebt seit Jahren in uns. Die Polen warnten, die Baltinnen, die Ukrainer, die Georgierinnen, die Söhne und Töchter der Diaspora im Westen.“
Diese Sätze stammen vom Journalisten Artur Weigandt. Aus seinem Artikel, der vor etwas mehr als einer Woche bei Zeit Online erschien, unter dem Titel „Russische Invasion: Wir haben es euch gesagt“. Artur Weigandt selbst wurde in Kasachstan geboren, sein Vater ist Russlanddeutscher, seine Mutter Belarussin und Ukrainerin.
Seine Freundin kam als jüdische Kontingentgeflüchtete nach Deutschland. Aus Mariupol. Aus der Stadt, die Natascha Wodin 2017 mit ihrem bewegenden Buch „Sie kam aus Mariupol“ in die deutschsprachige Literatur einschrieb. Sie begab sich auf die Spuren ihrer Mutter, die von den deutschen Besatzern als sogenannte „Ostarbeiterin“ ins Deutsche Reich verschleppt wurde. Mariupol. Eine Stadt, in der ich noch nie war. Und deren Name ich nach dem 24. Februar nie mehr vergessen werde. Seit Wochen eingeschlossen von russischen Truppen. Die Menschen trinken das Wasser aus den Heizungen, sie tauen das Eis auf. Leichen liegen auf den Straßen, Kadaver für die streunenden Hunde. Die Menschen sterben am Hunger. Und die fliehenden Menschen werden beschossen. Die schlimmsten Assoziationen des 20. Jahrhunderts verbinde ich mit Mariupol – Srebrenica, Leningrad. Wir schreiben das Jahr 2022.
Rund 3,5 Millionen postsowjetische Migrant*innen leben in Deutschland. Die größte migrantische Gruppe der Bundesrepublik. Und lange Zeit eine sehr unsichtbare Gruppe – aufgrund des geringen Wissens in Deutschland über das östliche Europa, und weil diese Menschen ein „sowjetisches Gepäck“ mitgebracht haben. Zu diesem Gepäck gehören neben Samowaren, Fotografien und Urkunden auch die Erfahrungen eines Systems, in dem politische Dinge nicht in der Öffentlichkeit, sondern am Küchentisch verhandelt wurden. Zumal wenn es um die Belange einer nicht-russischen Minderheit ging.
„Wir haben es euch gesagt“ – und wir, die nicht-postsowjetische Mehrheitsgesellschaft, haben nicht zugehört. Katja Petrowskaja, Lena Gorelik, Dmitrij Kapitelman, Olga Grjasnowa, Gusel Jachina, Andrij Kurkow – es gibt sie, die postsowjetischen Autor*innen, deren Bücher auch hier gelesen werden. Das zumindest ist erfreulich. Wie es auch gut ist, dass viele andere der jungen Generation jetzt über Zeitungsartikel, Podcasts und Instagram sicht- und hörbar sind.
Hier Lebende werden als „Russen“ pauschalisiert
Das Ergebnis ist eine deutlich differenziertere Berichterstattung als noch 2016 beim sogenannten „Fall Lisa“. Damals hatte eine vermeintliche Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens durch Geflüchtete in Berlin zu Demonstrationen Russlanddeutscher gegen andere migrantische Gruppen geführt. Der „Fall“ erwies sich schnell als gezielte Falschnachricht des russischen Fernsehens. Es folgten jedoch Berichte über den „Rechtsruck in Klein Moskau“ oder die „Alternative für Russlanddeutsche“. Mit ihnen wurden alte Wunden wieder aufgerissen. Für das Miteinander in der postmigrantischen Gegenwart der Bundesrepublik war das alles nicht hilfreich.
Und auch heute gibt es im Zeichen des Krieges erneut Anfeindungen gegen hier lebende Menschen. Sie werden pauschal als „Russen“ adressiert und für Putins Politik in Kollektivhaftung genommen. Sie alle sprechen Russisch, ja – aber ihre Lebenswege sind so verzweigt wie die von Artur Weigandt und seiner Freundin, und nicht wenige haben Verwandte in der Ukraine, um deren Leben sie bangen. Sie erleben gerade existenziell schwierige Zeiten, die Risse gehen quer durch die Communities und die Familien. Das letzte, was diese Menschen jetzt brauchen, sind pauschale Anfeindungen von außen oder die Instrumentalisierung der Vorfälle durch Putins Trolle und das russische Fernsehen.
Wir haben also vielleicht die Bücher gelesen und die Podcasts gehört – aber haben wir auch die eindringlichen Warnungen vor dem russischen Neokolonialismus gehört? Haben wir nicht. Und wenn ich „wir“ sage, dann meine ich auch mich selbst.
Nach rund drei Jahrzehnten Beschäftigung mit dem östlichen Europa habe ich bis wenige Tage vor dem russischen Überfall gehofft, dass der gewaltige russische Truppenaufmarsch eine Drohkulisse ist, die nach Erreichen wie auch immer gearteter Zugeständnisse des Westens wieder abgebaut wird.
Erst am 21. Februar, als die beiden vermeintlichen Führer der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk – dieser von Moskau abhängigen Pseudostaaten im Osten der Ukraine – ihre Erklärungen abgaben, war auch mir klar, dass es Krieg geben würde. Am selben Tag sprach Putin der Ukraine das Existenzrecht ab. Es folgte die bis heute andauernde Eskalation. Die Schockstarre und die Verzweiflung, die mich am 24. Februar befielen, dauern bis heute an.
Ukrainer sterben seit acht Jahren für unsere Freiheit
Warum ist das alles so gekommen? Ich habe für meine Habilitation rund ein Jahr in Sankt Petersburg gelebt – eine großartige, viel beschriebene Stadt, mit vielen großartigen Menschen und Orten. Und dann kam 2014 die Annexion der Krim, es begann der Krieg im Osten der Ukraine. 2015 erschien das Buch „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“ des Historikers Karl Schlögel. Es heute wieder zur Hand zu nehmen, ist schmerzhaft – es liest sich wie eine Prophezeiung dessen, was wir jetzt erleben.
Natürlich wusste ich, dass es in der Ukraine de facto Krieg gibt – aber es musste bis 2019 dauern, als ich zwei Wochen in Dnipro und in Kyjiw war, um wirklich zu verstehen, zu spüren, was das heißt. Es wurde mir klar, als ich auf dem Majdan und vor dem St. Michaeliskloster stand und die Wand mit den Fotos abging, auf der die ukrainischen Soldaten porträtiert sind, die im Donbass gefallen sind. Viele von ihnen 17, 18, 19 Jahre jung. Mehrere Hundert Meter ist die Wand lang. Die Menschen in der Ukraine sterben seit acht Jahren, für ihre Freiheit, für unsere Freiheit.
In Deutschland avancierten währenddessen die Bücher von Gabriele Krone-Schmalz und Gerhard Schröder zu Bestsellern, Sahra Wagenknecht saß in Talkshows und reproduzierte Putins Sicht auf die Welt. Die Ukraine kommt in diesen Erzählungen nicht vor, ebenso wenig wie Belarus, Polen oder die baltischen Staaten. In einer Fortführung kolonialer Traditionen wurde in Deutschland viel zu lange nur über die Interessen Deutschlands und Russlands gesprochen, als ob es die Staaten dazwischen nicht gäbe. Häufig unter Verweis auf die deutsche historische Verantwortung – ein ehrenwertes Motiv, ich war lange genug in Sankt Petersburg, um zu wissen, welch monströses Verbrechen die Blockade Leningrads ist, der mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen.
Aber deutsche Vernichtungspolitik fand nicht nur im russischen Teil der Sowjetunion statt, sondern ebenso in der Ukraine und in Belarus. In der Reihe der Orte deutscher Verbrechen stehen neben Leningrad auch Babij Jar in Kyjiw und Malyj Trostenez in Belarus. Das deutlich zu machen, ist auch uns, den Osteuropahistoriker*innen, zu lange nicht gelungen. Der jetzige Krieg wird auch für unser Fach eine Zäsur darstellen.
Den Menschen zuhören, die wissen, wofür Putin steht
„Eine friedensverwöhnte Generation in Deutschland lernt, dass Krieg nicht nur eine Fernsehangelegenheit ist.“ Diese Aussage Karl Schlögels, wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Für mich muss ich sagen, so schmerzhaft es ist: Ja, das stimmt. Anscheinend bedurfte es erst eines großes Krieges, damit wir beginnen, unsere Perspektiven zu hinterfragen.
Viel zu viele Reportagen lassen sich in den Archiven deutscher Zeitungen mit dem Tenor finden, dass Demokratie ein vermeintliches Luxusgut sei, das nur in Westeuropa funktioniere, die Ukraine war hingegen häufig nur in Zusammenhang mit Korruption ein Thema. Welch eine Hybris angesichts der Toten in Grosny, in Georgien, in Moldawien und jetzt in der Ukraine.
Wir stehen in der Schuld der Menschen, deren Sorgen und Warnungen wir nicht ernst genommen haben. Das Mindeste, was wir jetzt tun können, ist die Unterstützung der Ukrainer*innen in ihrem Kampf um ihr Leben und gegen die Vernichtung ihrer Geschichte. Und wir sollten endlich, endlich den Menschen zuhören, die seit Jahrzehnten hier leben und die wissen, was Krieg ist und wofür Putin steht.
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