Post-Platzhirsch-Zeitalter: Der Überkanzler hat ausgedient

An Helmut Schmidt zeigt sich, wie groß das Bedürfnis nach Heldenverehrung ist. Ein kleiner Beitrag zur Dekonstruktion.

Hoheitlicher geht es kaum: Helmut Schmidt, einst Kanzler, als Briefmarkenmotiv. Foto: dpa

Hamburg taz | Sonderbar: dass wir im postheroischen Zeitalter leben, hat uns inzwischen fast jeder Publizist und jede Soziologin mitgeteilt, aber entweder sind wir daraus schon wieder enteilt oder doch noch nicht angekommen. Fasst man den Begriff Held großzügig, fällt auch die Spielart großer alter Mann darunter, und zu dessen Inbegriff ist Helmut Schmidt geworden. Posthume Beigaben für den großen alten Mann sind ein Museum, eine Briefmarke und ein Gedenkgottesdienst im Hamburger Michel. Beigabe zu Lebzeiten war der Stammplatz in den bundesdeutschen Medien.

Was tut es, könnte man fragen, es gibt viel Sendezeit im deutschen Fernsehen, warum dort nicht Helmut Schmidt zuhören statt einem Promi-Koch, warum nicht ihn die Welt erklären lassen, wenn die Alternative Karl Lagerfeld ist, der sich zur Flüchtlingspolitik äußert. Warum nicht Helmut Schmidt in Ruhe den großen alten Staatsmann sein lassen, ihm den Überschuss an Renommee in der Öffentlichkeit geben, der Helmut Kohl über seine Familienquerelen abhanden gekommen ist?

„Oh, diese Anzüge, diese Frisur“

Warum nicht? Weil sein Platz in der Öffentlichkeit nicht allein einem inhaltlichen Bedürfnis folgt, sondern einem ästhetisch-stilistischen. „Oh“, sagte ein Kollege zu mir, als die Rede auf Schmidt kam, „diese Anzüge, diese Frisur.“ So erstaunlich es auf den ersten Blick sein mag: Körperliche Attraktivität öffnet dem alten Mann Türen, die der alten Frau weiter fest verschlossen bleibt, weil deren Schönheit nach wie vor nicht gilt.

Die alte Frau ist alt, der alte Mann ist markant: dieses volle weiße Haar, das adlerartige Profil. Wen interessiert es denn, ob Schmidts Politikverständnis von Immanuel Kant und Karl Popper geprägt war, wenn er sich gut macht im Studio. Da ist der große alte Mann dann Coffeetable-Book in der Auslage der Öffentlich-Rechtlichen, er macht sich gut im Zeit-Magazin, dessen Anzeigen für Nobel-Uhren an den Handgelenken segelnder Männer die gleiche weltläufige Anmutung atmen.

Was sind das für große alte Männer, deren prominentester Charakterzug in der öffentlichen Inszenierung das Beharren darauf ist, überall rauchen zu können? „Ein dröger Norddeutscher“, sagt meine Mutter, als ich sie nach der Ausstrahlung Schmidts zu Zeiten seiner Kanzlerschaft frage. „Immer im Schatten Willy Brandts, der ungleich mehr Charisma hatte.“ Willy Brandt starb zu früh, um noch Stammgast in Talkshows werden zu können.

Einer kommt zur rechten Zeit

Helmut Schmidt kam rechtzeitig. Er hat davon profitiert, hat etwa die Darstellung seiner Rolle bei der Bewältigung der Sturmflut in Hamburg nachträglich an einigen Stellen geschärft: der Mann, der in der Stunde der Not zur Stelle ist, wo die Kleinmütigen wie Hühner umherflattern. Er hat sich inszeniert und er wurde inszeniert: als unbestechlicher, vom Zeitgeist unkorrumpierbarer Tatmensch.

Dabei war die Zustimmung für ihn nicht in den Zeiten am größten, in denen er sich schwierige Entscheidungen abrang: im Deutschen Herbst 1977, als er sich nicht darauf einließ, die von der RAF Entführten gegen inhaftierte Terroristen auszutauschen, weil er den Staat nicht erpressbar machen wollte. Die Zustimmung zu Schmidt wuchs beträchtlich, als Franz-Josef Strauß als für viele abschreckende Alternative auf die Bühne trat. Sie wuchs erneut in der Ära Merkel. Angela Merkel ist beliebig weit entfernt von der testosterongeschwängerten Luft starker Führer, schwer vorstellbar, dass sie ihr Gegenüber fragt, ob es gedient habe.

Die Soziologen blättern in ihren Aufsätzen eine kleine Auswahl von Heldentypen auf, es gibt neben dem Kriegsheld auch noch den zivilen Helden, aber in der medialen Öffentlichkeit scheint eine gewisse Zackigkeit, eine gewisse Aggressivität, eine gewisse Zweifelsfreiheit vorteilhaft. Es ist nicht die Schuld Helmut Schmidts, dass die bundesdeutsche Heldenöffentlichkeit so monoton ist.

Auf einen Tee mit Thomas de Mazière statt auf eine Zigarre mit Karl-Theodor zu Guttenberg? Unwahrscheinlich, aber nicht so abwegig, wie es eine Zigarette mit Hildegard Hamm-Brücher gewesen wäre. Ohne Platzhirschgehabe kein Stammplatz im deutschen Fernsehstudio. Karin Beier und Amelie Deuflhard statt Claus Peymann und Frank Castorf? Angela Merkel, die einem staunenden Giovanni di Lorenzo durchdekliniert, was ihre Nachfolgerin eigentlich zu tun hat? Beliebig unwahrscheinlich. Noch.

Breitbeinige Männer, entzaubert

Wir leben in verwirrenden Zeiten. Breitbeinige Männer erklären in Talkshows die Welt, während schmale Frauen sie auf Parteitagen entzaubern. Ein Mann wie Stéphane Hessel, in seiner entschiedenen Zartheit der Gegenentwurf der raumgreifenden Alpha-Männer, wird europaweit zum Idol. Während die Furcht umgeht, eine Mehrheit könne sich nach starken Führerfiguren sehnen, organisieren zahlreiche Namenlose eine Bürgergesellschaft, die sich nicht überwältigen lassen will, nicht auf starke Männer – oder Frauen – wartet, sondern das zu tun versucht, was sie für richtig hält.

Wer weiß, vielleicht ist das die Zukunft: mündige BürgerInnen, deren Sehnsucht nach Helden eher überschaubar ist, mehr Sidekick als Dauerprogramm. Nicht auszudenken, wenn die Medien dem folgten, wenn sie neue Stimmen entdeckten: alte Frauen mit unvorteilhaften Frisuren, die ihr Gegenüber aussprechen lassen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.