Polizei am Hauptbahnhof: Hamburg räumt für die EM auf
Sozialarbeiter*innen beobachten, dass Obdachlose mit Platzverweisen verdrängt werden. Jetzt will die Gesellschaft für Freiheitsrechte klagen.
Am Dienstag hat die Hamburger Polizei mit Spürhunden und Drohnen das Stadion durchsucht. Gefährliches haben sie nicht gefunden und darum haben sie das Stadion anschließend an die Organisatoren der EM übergeben, die bei dem Turnier für die Sicherheit verantwortlich sind. Die Polizei hingegen wird während der EM rund ums Stadion, in der Fanzone und in der Innenstadt im Einsatz sein.
In der Innenstadt hätten einige Straßensozialarbeiter*innen bereits in den vergangenen Wochen beobachtet, dass die Zahl der Platzverweise stark zugenommen habe, erklärt Hinz&Kunzt-Geschäftsführer Jörn Sturm. Dagegen will die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), ein Verein, der sich mit strategischer Prozessführung für die Stärkung der Grund- und Menschenrechte in Deutschland und Europa einsetzt, nun juristisch vorgehen.
Denn: Dass alle Menschen öffentliche Räume frei nutzen dürfen, ist im Hamburgischen Wegegesetz geregelt. Jeder Mensch hat demnach das Recht, sich an öffentlichen Orten aufzuhalten – das gilt auch für obdach- und wohnungslose Menschen. Platzverweise darf die Polizei nur dann aussprechen, wenn eine Gefahr für die öffentliche Ordnung besteht.
Eine solche Gefahr läge bei einem Verstoß gegen die Rechtsordnung vor, erklärt GFF-Juristin Mareile Dedekind. Dazu zähle beispielsweise der Konsum von Alkohol in der erst im April eingerichteten Alkoholverbotszone am Hamburger Hauptbahnhof. „Der bloße Aufenthalt obdachloser Personen am Hauptbahnhof rechtfertigt also keinen Platzverweis“, erklärt sie.
Es sei aber gängige Praxis der Polizei, obdach- und wohnungslose Menschen aus dem öffentlichen Raum zu verweisen, obwohl keine entsprechende Gefahr vorläge. Das berichten auch Betroffene immer wieder – sie fühlten sich dadurch gezielt kriminalisiert und stigmatisiert.
Verdrängung nimmt vor Großereignissen zu
Insbesondere in Zeiten von Großereignissen – wie eben der anstehenden Europameisterschaft – könne man beobachten, dass die Stadt aufgehübscht werden solle und die Verdrängung zunehme, sagt Jörn Sturm. „Das hat man in den letzten Jahren schon öfter gesehen.“
Die Konflikte in der Hamburger Innenstadt rund um den Hauptbahnhof haben sich den vergangenen Jahren verschärft. Anfang 2023 titelte der NDR dann unter Verweis auf Zahlen aus dem Vor-Coronajahr 2019: „Hamburger Hauptbahnhof ist Deutschlands gefährlichster Bahnhof“. Der rot-grüne Senat reagierte mit verstärktem Polizeiaufgebot.
Im Sommer 2023 gründeten die Hamburger Polizei, die Bundespolizei, die DB-Sicherheit und die Hochbahnwache dann die „Allianz sicherer Hauptbahnhof“, die am Bahnhof patrouilliert. Dazu kamen zahlreiche weitere Maßnahmen wie ein Alkoholverbot, verstärkte Videoüberwachung, die „Sozialraumläufer“, die sich nicht als Sozialarbeiter*innen, sondern als Sicherheitsleute entpuppten, und das kürzlich beschlossene Bettelverbot.
„Weckdienst“ für wohnungslose Menschen
Bereits seit 2017 existiert der sogenannte „Weckdienst“ in der Hamburger Innenstadt, der in den frühen Morgenstunden obdachlose Menschen weckt und wegschickt, die in Geschäftseingängen schlafen. Betroffene berichten, dass dieser Weckdienst zurzeit wieder aktiver sei, erklärt Straßensozialarbeiter Julien Peters von der Caritas der taz. Nachdem die Polizei in den vergangenen anderthalb Jahren vor allem rund um den Hauptbahnhof aktiv gewesen sei, berichten Betroffene momentan von einer vermehrten Präsenz in der gesamten Innenstadt.
Das große Aufgebot von Polizei und Sicherheitspersonal schüchtere Betroffene mittlerweile so sehr ein, dass sie öffentliche Plätze freiwillig verließen oder gleich mieden, so Peters. Zudem erleichterten das Bettelverbot, die Alkoholverbotszone und weitere ordnungspolitische Maßnahmen das Erteilen von Platzverweisen. In der Statistik tauchen, so Peters, viele Fälle gar nicht auf, weil sich die Betroffenen freiwillig und im Zweifel unbemerkt zurückzögen, um keinen Ärger zu bekommen.
Mindestens 2.000 Menschen in Hamburg obdachlos
Auf Hamburgs Straßen leben mindestens 2.000 Menschen, die obdachlos sind. Die Dunkelziffer wird noch viel höher geschätzt. Fast 32.000 Menschen sind im April 2024 in städtischen Unterkünften untergekommen – damit liegt Hamburg über dem bundesweiten Durchschnitt. Steigende Mietpreise, Wohnungsverknappung und zunehmende Wohnungslosigkeit verschärfen die prekäre Lebenssituation von Menschen, die auf der Straße leben. „Obdachlosigkeit ist keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, vielmehr ist sie eine Gefahr für die von ihr betroffenen Menschen“, erklärt Mareile Dedekind von der GFF.
Mithilfe strategischer Klagen möchte die Gesellschaft nun gegen die rechtswidrigen Platzverweise vorgehen und auf die Verdrängung bedürftiger Menschen aufmerksam machen. Als gemeinnütziger Verein hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die Grund- und Menschenrechte mit juristischen Mitteln zu verteidigen.
Die strategischen Klagen will sie nutzen, um das Recht aller Menschen auf menschenwürdiges Wohnen voranzutreiben. Da die Polizei Platzverweise meist nur mündlich ausspreche, sei es nicht leicht, die Umstände vor Gericht anzufechten, sagt Dedekind. „Trotzdem wollen wir es versuchen, damit kein rechtsfreier Raum entsteht.“
Innenbehörde: Nicht mehr Platzverweise erteilt
Laut Stellungnahme der Innenbehörde sei die Anzahl der Platzverweise und Aufenthaltsverbote in den vergangenen drei Monaten allerdings nicht gestiegen, sondern bewege sich auf einem konstanten Niveau. Gefahren für die öffentliche Sicherheit würden aufgrund des jeweiligen Verhaltens einer Person ausgesprochen, nicht aber wegen ihres äußeren Erscheinungsbildes oder ihrer Wohnsituation. Daher begründet „der alleinige Umstand, dass ein Mensch obdach- und wohnungslos ist, keine polizeiliche Maßnahme im Sinne des Gefahrenabwehrrechts“, erklärt die Innenbehörde.
Jörn Sturm, Hinz & Kunzt
Auch gegen das kürzlich beschlossene Bettelverbot in Hamburger Bahnen und Bahnhöfen möchte die Gesellschaft für Freiheitsrechte klagen, weil die rechtlichen Anhaltspunkte des Verbots nicht tragbar seien. „Betteln ist grundrechtlich geschützt und ein Verbot kann nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass Fahrgästen die Konfrontation mit prekären Lebensverhältnissen erspart werden soll.“ Auch die Hamburger Hochbahn sei als privatwirtschaftliches Unternehmen, das in staatlichen Händen liegt, verpflichtet, die Grundrechte zu beachten und daher das Betteln zu dulden.
Bahn stockt Sicherheitspersonal auf
Die Bahn hat angekündigt, während der EM 40 weitere Reinigungskräfte durch den Hamburger Hauptbahnhof zu schicken. Außerdem haben sie für die Zeit des Fußballturniers 70 zusätzliche Sicherheitskräfte eingestellt. Das könnte die Situation für die wohnungs- und obdachlosen Menschen verschärfen. „Zu zeigen, dass man arm und bedürftig ist, ist noch lange kein Grund, Menschen aus dem Stadtbild zu entfernen“, kritisiert “Hinz & Kunzt“-Geschäftsführer Jörn Sturm. „Unsere Sorge ist groß, dass die extremste Form der Armut während der EM unsichtbar gemacht werden soll.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern