Politologe über Wiederaufbau in Ukraine: „Soziales nicht außer Acht lassen“

Obwohl noch Krieg herrscht, sei es richtig, jetzt schon den Wiederaufbau der Ukraine zu planen, sagt der Politikwissenschaftler Jörn Grävingholt.

Ein Linienbus und Hausruinen in der Stadt Borodianka in der Ukraine

Borodinka ist nur eine von vielen Städten, die dringend einen Wiederaufbau benötigen Foto: Gleb Garanich/reuters

Herr Grävingholt, der Krieg tobt in weiten Teilen der Ukraine, dennoch setzt die internationale Staatengemeinschaft jetzt auf Wiederaufbau. Ist das nicht naiv?

Nein. Überall dort, wo es ein Maß an Sicherheit gibt, ist das ein richtiger Ansatz. Insbesondere auch dort, wo es seit drei oder vier Monate keine Kriegshandlungen gibt. Es muss ja schließlich weitergehen.

ist Wissenschaftler am German Institute of Development and Sustainabiltity (IDOS) und forscht zur Transformation politischer (Un)ordnung. Er nahm am Dienstag an der Wiederaufbau-Konferenz in Berlin teil.

Energie- und Wasserversorgung stehen unter Beschuss.

Jetzt den Wiederaufbau anzugehen, ist ein Zeichen der Solidarität an Menschen in der Ukraine. Man muss jetzt die Weichen stellen, damit schnell reagiert werden kann, sobald Kriegshandlungen zu Ende sind. Und es geht um ein Signal an Russland: Eines Tages werden wir euch die Rechnung präsentieren.

Der ukrainische Minister für regionale Entwicklung spricht von drei Wiederaufbau-Phasen: Kurzfristig, mittelfristig und langfristig. Wie sinnvoll ist das?

Für eine erste Bewertung ist das richtig. Allerdings müssen Aufgaben aus den verschiedenen Phasen auch parallel angegangen werden. Ein großer Anteil an elementarer Infrastruktur wurde zerstört. Es macht Sinn, bei deren Wiederaufbau gleich erneuerbare Energien oder nachhaltige Baustoffe mitzudenken. Fragen der Nachhaltigkeit sollten nicht bis zum Sanktnimmerleinstag aufgeschoben werden, sonst jetzt gleich eingeplant werden.

Bundeskanzler Scholz (SPD) hat den Begriff im Sommer schon ins Spiel gebracht: Ein Marshall-Plan für die Ukraine. Ist das die richtige Blaupause?

Marshall-Plan, das ist ein großes Wort. Und ja, es gibt durchaus Bezüge zum amerikanischen Aufbauprogramm für Deutschland und Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber wir leben heute in einer anderen Welt. Wichtig ist, dass die Staatengemeinschaft und alle internationalen Institutionen verstanden haben, dass der Wiederaufbau eine gemeinsame Anstrengung ist. Weltbank, IWF, UNDEP, die EU-Kommission, die Staaten müssen zusammenarbeiten. Finanzielle Zusagen müssen für sehr lange Zeit sichergestellt werden.

Man scheint sich einig zu sein. Auch in der Umsetzung?

Unklar ist noch, wie die Aufgaben und die Verteilung des Geldes koordiniert werden. Die Problematik ist aus Afghanistan bekannt, aus Libyen oder aus Geber- und Aufbaukonferenzen für afrikanische Staaten. Ziel jetzt muss es sein, sich über Prioritäten und Strukturen der Wiederaufbauhilfe zu verständigen.

Ist dies auch ein Wettlauf über die Koordinationshoheit zwischen den USA und der EU?

Die USA werden sich enorm schwer tun, die Führungsrolle bei Koordination und Verteilung von Geld aus der Hand zu geben. Denn das sind sie nicht gewöhnt. Aber die EU hat der Ukraine den Beitrittsstatus verliehen. Damit hat die EU natürlich auch eine entscheidende Rolle und sie wird nicht in der zweiten Reihe sitzen. Für die Ukraine sind die USA aus sicherheitspolitischen Interessen aber ebenso wichtig wie der EU-Beitritt. Wichtig ist, die Koordination der Hilfen gekoppelt mit Reformen schnell zu klären.

Welche Herausforderungen gibt es dabei?

Es geht um eine nachhaltige Entwicklung, also um eine klimaschonende Entwicklung, die ökonomische und soziale Ziele nicht außer Acht lässt. Die Ukraine braucht Reformen im Staatsapparat, gegen Korruption, für mehr Rechtsstaatlichkeit. Es gab vor Kriegsbeginn gute Ansätze, da muss es jetzt weiter gehen. Genau diese Aspekte werden für einen potentiellen EU-Beitritt eine große Rolle spielen.

Für den Wiederaufbau bekommen Firmen Anreize für Investitionen, etwa Ausfallgarantien. Ist es eine gute Idee, die Privatwirtschaft einzubeziehen?

Ohne Privatinvestitionen wird es nicht gehen. Im Bausektor, bei den Erneuerbaren Energien. Allerdings muss es auch hier wieder klare Kriterien geben, damit nicht nur „Fassaden“ errichtet werden, sondern das Geld auch dort ankommt, wo es hin soll. Deutsche und europäische Unternehmen haben ohnehin Verbindungen in die Ukraine. Das sollten wir nicht unterschätzen, sondern als Chance sehen.

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