Politologe über Islamismus in Sahelzone: „Der Krieg ist nicht zu gewinnen“
Frankreichs Einsatz in der Sahelzone ist zum Scheitern verurteilt, sagt Marc-Antoine Pérouse de Montclos. Für Dschihadisten sei er gar ein Geschenk.
Hier geht es zur französischen Originalversion des Interviews.
taz: Herr de Montclos, in Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Krieg gegen den Terror im Sahel verloren ist. Wie kommen Sie darauf?
Marc-Antoine Pérouse de Montclos: Zunächst ist es eine Bilanz der beiden Hauptziele der französischen Militärintervention Serval in Mali 2013, aus der die bis heute fortdauernde Antiterrormission Barkhane wurde. Das erste Ziel bestand darin, die dschihadistische Bedrohung zu eliminieren oder zumindest einzudämmen. Stattdessen wurden die dschihadistischen Gruppen versprengt und sind heute schwerer aufzuspüren. Sie haben sich in Regionen festgesetzt, wo sie vorher nicht waren, wie im Zentrum Malis und im Norden von Burkina Faso. Von Sieg kann also keine Rede sein.
Das zweite Ziel war die Wiederherstellung der Souveränität Malis auf dem gesamten Staatsgebiet, denn 2012 hatten Tuareg den Norden Malis zum unabhängigen Staat „Azawad“ erklärt. Heute ist Mali immer noch faktisch geteilt. Im Norden erheben Rebellen die Steuern. Wenn man in Gao lebt und in die Hauptstadt Bamako will, muss man über Niger und Burkina Faso reisen, weil die Straßenverbindung zu unsicher ist.
Marc-Antoine Pérouse de Montclos ist ein französischer Politologe. Er hat in Nigeria, Südafrika und Kenia gelebt und ist aktuell Forschungsdirektor am Peace Institute im Oslo sowie Chefredakteur der Pariser Vierteljahreszeitschrift „Afrique contemporaine“. Anfang dieses Jahrs erschien von ihm im Pariser Verlag Jean-Claude Lattès das Buch „Une guerre perdue, la France au Sahel“.
Sie raten zum Rückzug der französischen Armee. Manche sagen, dann wäre es noch schlimmer, denn die Dschihadisten würden die Hauptstädte Bamako, Niamey und Ouagadougou erreichen.
Ich glaube nicht an das Szenario von Gruppen, die Bamako erobern und einen riesigen islamischen Staat „Sahelistan“ errichten. Wenn die französische Armee sich zurückziehen würde, kämen wir auf die Lage vor ihrer Intervention zurück, als sich mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle Nordmalis stritten. Im Süden Malis gäbe es Unruhe, aber keinen islamischen Staat. Und man vergisst, dass es in Mali auch die UN-Mission mit 13.000 Blauhelmen gibt. Ich glaube nicht an einen Krisenbogen von Irak bis Mali.
Sie glauben nicht an die terroristische Multinationale, aber es gibt Treueschwüre und Allianzen und eine gemeinsame Ideologie der afrikanischen Dschihadisten mit dem IS und al-Qaida, oder?
Ach, die gemeinsame Ideologie, die ändert sich je nach Konjunktur. Ich sehe keine Kombattanten aus der arabischen Welt in Afrika, auch nicht aus europäischen Banlieues, keine Geldtransfers, kein zentrales Kommando. Ich sehe lokale Gruppen, die globale Namen verwenden, um wichtiger auszusehen als sie es sind.
Die Loyalitäten sind zuweilen Opportunismus. Der Chef des „Islamischen Staates der Großen Sahara“, al-Sahraoui, hatte sich mit algerischen Dschihadisten von al-Qaida überworfen, er verließ deren Gruppe und gründete seine eigene. Und weil er sich von einer Al-Qaida-Gruppe gelöst hatte, verschrieb er sich dem IS. Das heißt nicht, dass er von dort Anweisungen annimmt.
In der Geschichte der Sahelzone gibt es eine dschihadistische Kultur, beispielsweise bei den Peul von Macina im 19. Jahrhundert …
Genau! Afrikaner brauchen keine Araber, um Dschihad zu führen. Hören wir auf, Afrikaner so anzusehen, als würden sie ständig von außen manipuliert. Sie können selbst rebellieren und ihre eigene „Befreiungstheologie“ konstruieren, um ihre soziale Revolte zu begründen, ohne Fernsteuerung.
Heißt das, das Label „Dschihadisten“ insgesamt ist opportunistisch gewählt?
Es ist eine gegenseitige Instrumentalisierung. Die Dschihadisten verleihen ihr Label an lokale Konflikte, vor allem Landkonflikte, während die lokalen Konfliktparteien den Koran nutzen, um sich zu rechtfertigen. Es geht in beide Richtungen. Die Afrikaner manipulieren die Araber, indem sie eine globale revolutionäre Agenda beanspruchen, um ihre lokale Agenda zu befördern – Peul-Ansprüche auf Wanderwege für Nomaden oder Tuareg-Ansprüche auf regionale Autonomie.
Gibt es eine moralische Begründung für den Dschihadismus im Sahel? Es ist viel von Unmut über Korruption und über Menschenrechtsverletzungen die Rede.
Ja, es ist ganz bizarr. Die Dschihadisten wenden sich an die Armen und versprechen, ihre Steuer „Zakat“ im Rahmen der Scharia umzuverteilen. Es ist ein idealistischer Diskurs, aber er funktioniert teilweise angesichts der Korruption des Staates. Außergerichtliche Hinrichtungen und Folter in der Haft ermöglichen es Dschihadisten, sich als einheimische Widerständler gegen auswärtige Invasoren darzustellen.
Die Anwesenheit der französischen Armee ist für sie ein Geschenk des Himmels. Es verankert sie in einem Diskurs des nationalen Widerstandes, ein bisschen wie Hamas in Palästina. Das richtet sich nicht nur gegen den Westen, sondern auch gegen Soldaten aus fremden Landesteilen: Südnigerianer im Norden, oder Bambara aus dem Süden Malis bei den Tuareg im Norden.
Heißt das, Frankreich und die Sahelstaaten fahren die falsche Strategie?
Der Krieg ist nicht zu gewinnen, denn das Grundproblem ist kein militärisches. Die Lösung ist in erster Linie politisch, denn das Grundproblem ist schlechte Regierungsführung und die Unfähigkeit der Staaten, Konflikte anders als durch Repression zu lösen.
Frankreich will seine Verbündeten aber nicht kritisieren und konzentriert sich lieber auf die Frage der Entwicklungshilfe unter dem Ansatz, dass Armut an der Wurzel der Aufstände im Sahel liegt und dass man mit ihrer Hilfe die Armut bekämpfen und die Anziehungskraft der Dschihadisten verringern kann.
Wenn unter dieser Voraussetzung Frankreich abzieht, würde das nicht doch zum Desaster führen? Die Anzahl der Dschihadisten steigt, die Schwere ihrer Angriffe auch.
Tausende Tote: In Westafrikas Sahelzone sind seit 2012 bewaffnete Islamisten aktiv. Ursprünglich aus Algerien verdrängt, haben sie lokale Nachahmer gefunden und sich mit Waffen aus Libyen gestärkt. Das Jahr 2019 war das bisher blutigste, mit über 4.000 zivilen und militärischen Toten nach UN-Angaben. Hunderttausende von Menschen sind auf der Flucht – vor allem im Norden von Burkina Faso und Teilen Malis.
Neue Angriffe: Der jüngste Angriff erfolgte am Sonntag in Mali. Bewaffnete töteten fünf Soldaten bei einem Feuergefecht an der Militärbasis Mondoro nahe der Grenze zu Burkina Faso. In Reaktion flog Malis Luftwaffe Angriffe auf mutmaßliche Islamisten; die Opferzahl ist unbekannt.
Der Abzug der Franzosen könnte auch das Gegenteil bewirken. Im Moment hält die internationale Gemeinschaft korrupte und oft autoritäre Regime künstlich an der Macht. Militär- und Finanzhilfe ermutigt nicht zu Reformen, sie ist eine Art Lebensversicherung für diese Regime. Wenn man diese Versicherung entzieht, führt das sicherlich zum Drama, aber es ermöglicht auch, dass die Afrikaner ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Mit welchem Ergebnis – das weiß ich nicht. Vielleicht gibt es eine Islamisierung der Politik, weil der postkoloniale Staat heute als obsolet gesehen wird. Aber ich glaube nicht, dass die Scharia große Unterstützung genießt.
Ist es nicht fatalistisch, den Krieg verloren zu geben? Könnte man nicht die Strategie ändern?
Der Krieg ist verloren, weil er als sehr fern und als exotisch gilt. Es ist sehr schwer zu wissen, was eigentlich passiert. In Kolumbien gibt es einen Friedensprozess und Versöhnung. Im Sahel gibt nur eine einzige Erzählung, und sie handelt ausschließlich von Greueltaten der Dschihadisten, nie von denen der Regierungstruppen. Man bräuchte einen Versöhnungsprozess, und dafür müssten die Staaten akzeptieren, mit den Aufständischen zu sprechen und ihre eigenen Fehler einzugestehen.
Im Moment gehen Jugendliche zu den Dschihadisten, um sich zu schützen, um Massaker, Folter und Haft zu entgehen. Weitere Verstärkung aus Frankreich ermutigt dieses Verhalten der Regierungsstreitkräfte. Ich bin für einen ausgehandelten Zeitplan des Rückzugs, der ständig an die Fortschritte vor Ort angepasst wird.
Andere EU-Staaten zögern, sich an der Seite Frankreichs zu engagieren – ist es, weil sie Ihre Analyse teilen?
Ich denke, es gibt zwei Gründe. Zum einen gilt die Region als Frankreichs Hinterhof. Zum anderen teilen die Europäer nicht die dramatische französische Analyse der Lage. Keine der dschihadistischen Gruppen Afrikas hat je einen Terroranschlag in Europa oder Amerika verübt, sie sind nicht der IS oder al-Qaida. Es gibt aber auch in Frankreich Diplomaten und Militärs, die meiner Analyse zustimmen. Ich sage laut, was sie nur denken. Sie wissen, dass sie gegen die Wand fahren, aber sie dürfen es nicht sagen.
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