Politisierung auf der documenta 15: Kunst im Anflug auf Kassel
Der postkoloniale hat den proletarischen Internationalismus in der Debatte abgelöst. Doch wie reagiert die Kunst darauf?
Es ist Krieg in der Ukraine und wir streiten uns über Kunst. Und dies auch völlig zu Recht. Denn über den Bereich der Kunst werden in bürgerlichen Gesellschaften von jeher Deutungshoheiten und ideelle Hegemonien verhandelt. Im Frieden wie auch im Krieg. Im Anschluss an die höfischen und religiösen Systeme hatte dies insbesondere der Staat gewordene Kommunismus verstanden und sich zunutze gemacht.
Der Stalinismus unterwarf das Streben nach einer autonomen künstlerischen Sphäre (auf den von ihm kontrollierten Territorien) seinem totalitären Machtanspruch und intervenierte zugleich propagandistisch geschickt in die bürgerlichen Gesellschaften des Westens. Er beanspruchte dort seinerseits ein Recht auf Kunst- und Meinungsfreiheit, predigte den „proletarischen Internationalismus“, um so mit der pervertierten Freiheitsidee Kräfte für sein riesiges Moskauer Kolonialreich zu sammeln.
Den im Namen eines proletarischen Kollektivs rigide und universell vorgetragenen Führungsanspruch der kommunistischen Parteien widersetzten sich weltweit ab den 1920er Jahren viele Kunstschaffende.
Sie wollten sich diesen und anderen Zumutungen aus der Politik nicht beugen, sie wurden ja nicht nur vonseiten des autoritären Kommunismus bedrängt. Nützlichkeitserwägungen, politische Auftragswerke, aber auch kultisch wirkende Markt- und Genie-Inszenierungen wies der emanzipatorische Teil der (linken) Kunstszenen von sich.
Wahre Kollektivität
Die historischen Avantgarden (Dadaismus, Surrealismus, Situationismus etc.) setzten (wie auch später Hippies, Punks oder Poplinke) dabei häufig auf Zertrümmerung zu einfach lesender, „affirmativer“ Kunstsprachen. Sie förderten einen voluntaristischen Subjektivismus, radikale Individualität als Grundlage wahrer Kollektivität und hedonistischer Lebensweisen.
Ihre Ausdrucksformen waren von Negation, Abstraktion und Erweiterung geprägt, dem Wechselspiel eindeutiger mit mehrdeutiger Symbolik, die sich nicht eins zu eins für autoritäre politische Propaganda gebrauchen ließen – und zumindest temporär auch nicht für die kapitalistischen Warenkreisläufe.
Diese Kunstszenen konnten, so es sein musste, auch im politischen Sinne radikal und parteiisch auftreten, auch parolenhaft (etwa bei der Abwehr der Konterrevolution in der Weimarer Republik, den Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Anarchisten während des Spanischen Bürgerkriegs oder auch bei Revolten wie dem Pariser Mai 1968).
Künstler oder Untertan?
Doch bestand die Kunst auch immer darin, sich in der Kunst nicht dauerhaft und einzig auf eine erwartbare grammatikalisch formelhafte Äußerung oder gar Herkunft festlegen zu lassen. „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.“ So ein Slogan aus dadaistischer Zeit.
Neben dem „proletarischen Internationalismus“ war die andere große Propagandalüge des Staat gewordenen Kommunismus die von der großen Liebe unter den sozialistischen „Brudervölkern“. Freundlich und familiär sollte eine weltumspannende Imperiumsidee klingen, bei der man jedoch die expansive Tradition des Zarismus fortsetzte und die indigenen Völker erdrückte.
Das russische und später sowjetische Kolonialregime reichte im Fernen Osten bis nach Japan und China, im Westen bis über Polen hinweg, im Süden ans Schwarze oder Kaspische Meer. Nation um Nation wurde kolonisiert – oder wie in der Ukraine derzeit massakriert.
Postkoloniale Behauptungen
Für die Kunst seien „nur die anti- und dekolonialen Inhalte heute neu und relevant“, formulierte Diedrich Diederichsen kürzlich en passant in einer Buchkritik für die Süddeutsche Zeitung. Diederichsen, heute Kunstprofessor in Wien, früher Pionier der deutschen Popkritik, klingt in solch apodiktischen Sätzen ein wenig nach dem Politkommissar alter Schule. Zumal er beim künstlerischen Dekolonisieren ausschließlich den Blick gegen den alten und heute demokratischen Westen richtet.
Ganz so, als wären die außer(west)europäischen Nationen ihrerseits nicht zu imperialer Herrschaft, Kolonisierung und Völkermord fähig – und fähig gewesen. Und ganz so, als hätte sich die kritische Kunstproduktion erneut einem einzigen behaupteten Kollektivgedanken zu fügen, hinter dem andere Positionen und Widersprüche als nebensächlich verschwänden.
Der Übergang vom proletarischen zum postkolonialen Internationalismus scheint 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion für Teile des Kunstbetriebs sehr attraktiv zu sein. Man gibt sich dabei zunehmend unhinterfragbar. Im Vorfeld der documenta15 kam die Diskussion auf, ob der documenta-Beirat und das von ihm ausgewählte indonesische Kuratorenteam Ruangrupa BDS-nah seien, damit auch antisemitische Positionen auf der Kunstschau zu erwarten sind.
Die BDS-Kampagne versucht seit Jahren Israel durch kulturelle Boykotte zu delegitimieren, sie wurde in einer Resolution des Deutschen Bundestags als antisemitisch eingestuft.
Antiisraelische Mobilisierung
Die documenta und mit ihr verbundene Journalisten wiesen die Kritik sogleich als „islamophob“ zurück. Hinweise, das zur documenta15 eingeladene palästinensische Kollektiv „The Question of Funding“ um Lara Khaldi und Yazan Khalili, frühere Funktionäre des Khalil Sakakini Cultural Center in Ramallah, agiere antiisraelisch, tat man als rassistisch ab.
Von Khalili finden sich Arbeiten im Netz wie „Apartheid Monochromes“. Sechs monochrome Farbtafeln, ganz nach Yves Klein, aber, wie tricky, im Subtext farblich der israelischen Repression zugeordnet, begrifflich dem früheren südafrikanischen Rassistenstaat. Nach der Kritik wurde die Repräsentanz für die documenta15 nun etwas verändert. Ein Künstlerkollektiv namens Eltiqa aus dem von der faschistischen Hamas kontrollierten Gazastreifen soll es nun richten.
Die Israel-Denunziation ist ein Fixpunkt vieler sich postkolonial begreifender Kunstfunktionäre und -szenen. Dabei ist Israel die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten, mit Bürgerrechten für Minderheiten, von denen die Bevölkerungen arabischer oder islamischer Staaten nur träumen können.
Israel zieht notorisch die Feindschaft von undemokratischen Regimen auf sich, die auch den völkischen palästinensischen Extremismus finanzieren und munitionieren. An die verlorenen arabischen Angriffskriege, in denen man sich selber als unschuldiges Opfer sieht, erinnern Kultureinrichtungen, die nach rechten panarabischen Ideologen wie Sakakini benannt sind.
Völkischer Opportunismus
Im Kontext Palästinas kann eine kritische Kunst aber nur eine sein, die sich dem völkisch-religiösen Paradigma des Befreiungsnationalismus widersetzt. Und nicht eine, die bildnerisch den äußeren Feind anklagt und von den eigenen Defiziten ablenkt.
Die politische Haltung sollte sich keineswegs immer eins zu eins in der Kunst abbilden. Siehe Sozialistischer Realismus. Genauso wenig lassen sich Debatten über das System Kunst unisono international vereinheitlichen.
In Teilen Indonesiens, des Herkunftslands des documenta-Kuratorenteams, herrscht beispielsweise die Scharia, aufgeklärte städtische Lebensweisen stehen unter Druck. Einen Wohlfahrtsstaat oder entwickelten Kunstmarkt gibt es nicht.
Auch keine kollektive Erinnerungskultur, die an den Völkermord an der chinesischstämmigen Minderheit erinnern würde. Das postkoloniale Suharto-Regime ließ 1965/66 Hunderttausende (Schätzungen sprechen von bis zu drei Millionen Menschen) systematisch ermorden.
Solidarität mit der Ukraine?
Minderheiten- und Bürgerrechtskämpfe in demokratischen Gesellschaften wie den USA, Israel oder der Bundesrepublik sehen anders aus als jene in Gaza, Iran, Syrien, Namibia oder Indonesien. Wer in der Kunst aber nur nach Motiven der postkolonialen Kritik sucht, dürfte an dieser erblinden.
Und auch keinen Blick dafür haben, was gerade in der Welt und in der Ukraine passiert. Auffällig viele postkoloniale Staaten enthielten sich wie China bei der Abstimmung der UN-Resolution zur Verurteilung des russischen Angriffskrieges.
Wer auf der documenta15 durch die Kunst unmittelbar politisch spricht, wird sich an der politischen Weltlage messen lassen müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe