Politischer Wandel in Großbritannien: Die neuen Shootingstars
Der Elan von Premierminister Boris Johnson ist im vergangenen halben Jahr erlahmt. Großbritanniens Agenda bestimmen inzwischen zwei andere.
Sie sind eloquent im Auftreten, ohne zu überdrehen, und selbstsicher in der Ausstrahlung, ohne aufzutrumpfen. Sie sind Großbritanniens Shootingstars des Jahres 2020, und sie stehlen Premierminister Boris Johnson die Show. Der eine: der neue Labour-Chef Keir Starmer, Starjurist aus einfachen Verhältnissen, ehemals Generalstaatsanwalt, Vertreter eines dynamischen Londoner Innenstadtwahlkreises. Der andere: der neue Finanzminister Rishi Sunak, Finanzexperte mit Migrationshintergrund, ehemals Hedgefonds-Manager, Vertreter eines ländlichen Wahlkreises in Yorkshire.
Starmer entscheidet jetzt über eine zentrale Frage der politischen Zukunft Großbritanniens: ob die britische Linke nach Jahren der Selbstzerfleischung wieder eine ernsthafte Alternative zu den Konservativen von Boris Johnson darstellen kann. Sunaks Handeln entscheidet derweil über die wirtschaftliche Zukunft des Landes nach den Erschütterungen durch die Coronakrise.
Erst ein halbes Jahr ist es her, da schwebte Boris Johnson über den Wolken. Die Parlamentswahl vom 12. Dezember 2019 brachte den größten Wahlsieg der Konservativen seit 1987. Als der Premier eine Woche später die neue Legislaturperiode eröffnete, versprach er „zehn goldene Jahre“. Er stand im Zenit seiner Macht.
Ein halbes Jahr später ist aus Boris Johnson offenbar die Luft raus. Die Entschlossenheit und der Optimismus von einst sind dem Eindruck von Überforderung und Zögerlichkeit gewichen. Er wirkt von den Ereignissen getrieben, statt sie zu gestalten, und die Zweifel an ihm wachsen. Vor wenigen Tagen fragte in der einflussreichen Tageszeitung Daily Mail der Politkolumnist Stephen Glover, ein Veteran seiner Zunft: „Ist der schlaffe, unschlüssige Boris, den wir jetzt zu sehen bekommen, lediglich ein Pausenfüller, an dessen Stelle alsbald der dynamische Führer tritt, den die Leute gewählt haben? Oder erleben wir jetzt den wahren Boris Johnson?“
Zwischen Dezember 2019 und Juni 2020 liegen nicht nur sechs turbulente Monate. In der Karwoche im April lag Boris Johnson mit einer schweren Covid-19-Erkrankung auf der Intensivstation, er kämpfte ums Überleben. Der bis dahin kerngesunde Politiker, der am 19. Juni seinen 56. Geburtstag gefeiert hat, ist seitdem ein anderer Mensch: leiser, zurückhaltender, aber auch ängstlicher, weniger belastbar.
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Das passt nicht mehr zu dem auf seine Person und seine Agenda zugespitzten Regierungsstil, den sich Boris Johnson zulegte, als er im Juli 2019 Premierminister wurde. In einer Art permanentem Ausnahmezustand wurstelte er sich viereinhalb Monate durch, ohne Parlamentsmehrheit, am Rande der Verfassungskrise. Der Brexit-Deal mit der EU entstand quasi nebenbei. Im Wahlkampf im Dezember kämpften alle politische Kräfte um ihr Überleben.
Als er das geschafft hatte, kümmerte sich Boris Johnson zunächst vor allem um sein Privatleben: Urlaub in der Karibik, die Scheidung von der Ehefrau, die Schwängerung der Lebensgefährtin. Der hyperaktive Dauerkämpfer ließ endlich die Dinge treiben. Der EU-Austritt am 31. Januar war eine Formalie. Nicht einmal die Überschwemmungen weiter Landesteile im Februar brachten ihn aus der Ruhe. Der Laden lief auch ohne ihn, geführt von Chefberater Dominic Cummings, dem irren Brexit-Politgenie mit Narrenfreiheit im Maschinenraum der Macht.
Gute Umfragewerte trotz späten Lockdowns
Im Streit mit Cummings zog sogar Finanzminister Sajid Javid den Kürzeren und trat zurück. All das waren Warnsignale, aber Johnson beachtete sie nicht. Er beobachtete mit Genugtuung, wie der neue Finanzminister Rishi Sunak im März mit Wucht die Agenda prägte, mit einem Staatshaushalt, dessen 600-Milliarden-Pfund-Investitionsprogramm die Labour-Partei sprachlos machte, und endlich eine konkrete Idee erkennen ließ, wie die Generalüberholung Großbritanniens nach dem Brexit aussehen soll.
Als Mitte März das Coronavirus zuschlug und Großbritannien eine kritische Woche zu spät den „Lockdown“ verfügte, war Johnson also schon in den Hintergrund getreten. Seiner Beliebtheit tat das keinen Abbruch, im Gegenteil: Zum Höhepunkt der Coronakrise stiegen die Umfragewerte der Konservativen auf weit über 50 Prozent. Der Eindruck war: Alle sitzen im gleichen Boot. Die Wahl eines neuen Labour-Chefs durch die Parteibasis Anfang April blieb eine Fußnote des politischen Geschehens.
Ausgerechnet Johnsons rechte Hand sorgte dafür, dass sich das änderte. Als sich nämlich im April Dominic Cummings’ Ehefrau Mary Wakefield, eine angesehene Journalistin, mit dem Coronavirus infizierte, steckte er aus Angst um sein kleines Kind die Familie ins Auto und fuhr zu seinen Eltern in den Nordosten Englands zwecks Isolation in einer separaten Wohnung. Eigentlich ließen die Lockdownregeln das nicht zu. Als die Presse es einen Monat danach aufdeckte, brach ein Shitstorm los. Johnson hielt zu seinem Chefberater – und seine Umfragewerte stürzten abrupt ab und haben sich nicht erholt.
Denn entweder galten die Lockdownregeln für alle außer Cummings – oder alle außer Cummings haben sie missverstanden, als sie „Stay Home“ für eine Anweisung hielten, zu Hause zu bleiben. Kein Wunder, dass die Regierung seither erheblich an Autorität verloren hat, zumal ihre Coronastrategie nicht verhinderte, dass Großbritannien die meisten Covid-19-Toten in Europa zählt, mehr als 42.000 aktuell nach der laufenden amtlichen Zählung.
Untersuchungskommission zu Corona-Toten
Woran das liegt, wird eine zukünftige Untersuchungskommissionen beschäftigen. Erste Erkenntnisse bestätigen, dass es sich vor allem um einen Ausdruck des dramatischen Pflegenotstands und des schlechten gesundheitlichen Allgemeinzustands der älteren Generation handelt: Rund 90 Prozent der Covid-19-Toten waren nach einer Analyse des Statistikamtes ONS über 65 Jahre alt, rund 40 Prozent sogar älter als 85.
Die Frage: „Wie um alles in der Welt kam es dazu?“, mit der Labours neuer Chef Keir Starmer seine erste parlamentarische Befragung des Premierministers am 6. Mai einleitete, ist historisch geworden. Wochenlang zerlegte Starmer danach jeden Mittwoch in einem halb leeren Unterhaus Johnsons Coronastrategie und gewann an Profil – während die Cummings-Affäre das Profil der Regierung zerschlug.
Der rasche Aufstieg Labours in den Umfragen und der ebenso rasche Rückgang der Werte der Konservativen datiert aus just jenen paar Wochen im Mai. Der 25-Punkte-Vorsprung der Konservativen schrumpfte plötzlich auf 5 Prozentpunkte, und dabei ist es seitdem geblieben: 43 zu 38 Prozent im Durchschnitt der Umfragen der vergangenen Woche.
Großbritannien hat nun wieder eine funktionierende parlamentarische Opposition. Mehr aber auch nicht. Starmer äußert lieber Kritik als eigene Überzeugungen. Als Jeremy Corbyns Brexit-Schattenminister verantwortete er Labours desaströse Brexit-Politik, wonach eine Labour-Regierung ein neues Austrittsabkommen mit der EU aushandeln, es dem Volk zur Abstimmung vorlegen und es dann aber nicht zur Annahme empfehlen werde.
Nur Finanzminister Rishi Sunak wird wenig kritisiert
Diese Woche geriet Starmer im Parlament in die Defensive, als er nicht sagen konnte, ob er für oder gegen eine Wiederöffnung der Schulen ist – Regierung und Kinderärzte wollen sie, Lehrergewerkschaften lehnen sie ab. In den aktuellen Rassismusdebatten vermochte es Starmer nicht, die ultrarechten Demonstranten in London als Rassisten zu verurteilen, wie Johnson es tat.
Der Einzige, dessen Krisenmanagement fast außer Kritik steht, ist Finanzminister Rishi Sunak. Sein ambitionierter Haushaltsplan vom März wurde in Windeseile Makulatur, aber seine Maßnahmen zur Bewältigung der Coronakrise danach kamen schnell und waren effektiv: Kurzarbeitergeld von bis zu 80 Prozent des letzten Verdienstes bis Oktober, wovon mittlerweile 8 Millionen Arbeitnehmer profitieren; eine Ausweitung auf Selbstständige; zahlreiche steuerliche Überbrückungsmaßnahmen für den Mittelstand. Wenn es nach drei Monaten Stillstand überhaupt noch eine Wirtschaft zum Hochfahren gibt, ist es „Rishi“ zu verdanken.
Wettbüros handeln den 40-Jährigen schon als den nächsten Premierminister. Rishi Sunak hat im Auftritt die Souveränität bewahrt, die Boris Johnson eingebüßt hat; er verkörpert in seiner Person das „Global Britain“, an das Johnson nur appellieren kann. Und er kümmert sich um die neue Generation konservativer Abgeordneter, die 2019 als Vertreter ehemals sicherer Labour-Sitze in Nord- und Mittelengland ins Parlament einzogen. Diese „Red Wall Tories“ sicherten Boris Johnson den Wahlsieg – und fühlen sich seitdem von ihm ignoriert, während der Finanzminister auf ihre Nöte eingeht und der Labour-Chef manche ihrer Bedenken ausspricht.
Die Gleichzeitigkeit des Aufstiegs von Rishi Sunak und Keir Starmer ist ein Zufall von erheblicher Sprengkraft. Mehrfach schon hat die Drohung der „Red Wall Tories“, im Parlament die Gefolgschaft zu verweigern, die Regierung zu Kehrtwenden in Richtung einer sozialeren Politik bewogen. Möglicherweise stehen sich Sunak und Starmer bei den nächsten Wahlen als Rivalen um die Macht gegenüber. Die stehen zwar erst 2024 an. Aber jetzt schon bereiten die beiden eine Zeit vor, in der Großbritannien auf Boris Johnson verzichten kann.
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