Politische Krise in Israel: Dramatische Stunden
So viele Menschen wie nie ziehen gegen die Justizreform auf die Straße. Gleichzeitig steht Israels rechts-religiöse Regierung am Abgrund. Und nun?
Wie es weitergeht, weiß derzeit keiner. „Chaos“, sagt der Besitzer eines Cafés in Tel Aviv und zuckt halb amüsiert, halb verzweifelt mit den Schultern: „Chaos. Bis es knallt.“ Andere, die Montagmittag in Tel Aviv mit Fahnen in der Hand zur Demonstration gegen die Justizreform ziehen, sind euphorischer: „Wir schreiben Geschichte! So etwas habe ich noch nicht erlebt.“
Zunächst hieß es, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wolle am Montagvormittag verkünden, die heftig umstrittene Justizreform vorerst auf Eis zu legen. Doch dazu kam es erst am Abend: Netanjahus Koalitionspartner von der rechtsextremen Partei Jüdische Stärke teilten mit, die Debatte über die kontroverse Justizreform auf den kommenden Monat zu verschieben. Zuvor hatte der Regierungschef in der Knesset für den Zusammenhalt seiner Koalition gekämpft, während es vor dem Parlamentsgebäude tobte.
„Ein historischer Streik“
Ausgebrochen waren die spontanen und bislang größten Proteste in der Geschichte des Landes in der Nacht zu Montag wegen eines taktischen Fehlers Netanjahus – so sieht es Gayil Talshir, Politikwissenschaftlerin an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Am Sonntagabend feuerte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Verteidigungsminister Yoav Gallant, weil dieser am Vorabend in einer öffentlichen Ansprache seine eigene Regierung dazu aufrief, die umstrittene Justizreform nicht ohne Dialog mit den Gegner*innen durchzupeitschen. Gallant begründete seinen Aufruf mit Sicherheitsrisiken: Er warnte davor, dass feindlich gesinnte Länder die innenpolitische Krise ausnützen könnten, um Israel anzugreifen. Seitdem ist das Land im Ausnahmezustand.
„Am Sonntagmittag hatten wir noch keine Ahnung, dass ein solcher Aufstand kommen würde“, sagt die Politikwissenschaftlerin. Ein weiterer Fehler in ihren Augen: Gallant wurde davon abgehalten, seine Sicherheitsanalyse dem Kabinett vorzustellen. „Dass Netanjahu sein eigenes Interesse, Israel in ein autoritäres Regime zu verwandeln, sogar vor Sicherheitserwägungen stellt, hat viele Leute auf die Straße gebracht, die bislang nicht protestiert hatten.“
Hunderttausende strömten aus Protest gegen den Rausschmiss Gallants spontan auf die Straßen. In Jerusalem durchbrachen Hunderte Polizeisperren und liefen auf Netanjahus Regierungssitz zu. Bis zum frühen Morgen blockierten in Tel Aviv Zehntausende die Fahrspuren der Stadtautobahn, entfachten Lagerfeuer und schwenkten israelische Fahnen. „Demokratie“ schallte es aus allen Richtungen. Erst gegen vier Uhr nachts löste die Polizei mit Wasserwerfern die Blockaden auf.
Am Montagvormittag folgte das nächste dramatische Ereignis: Gewerkschaftsführer Arnon Bar David kündigte einen Generalstreik an. Es sei an der Zeit, den Wahnsinn zu stoppen. „Dies ist ein historischer Streik, in dem Arbeitnehmer*innen- und Arbeitgeber*innen gemeinsam die Justizreform stoppen werden.“
Der Gewerkschaftsdachverband Histadrut mit seinen rund 800.000 Mitgliedern hatte bislang nicht zu den Protesten gegen die Justizreform aufgerufen. Das dürfte daran liegen, dass viele der Histadrut-Funktionäre eng mit Netanjahus Partei Likud verbunden sind. Die Organisation wollte zunächst wohl auch eine Vereinbarung mit Finanzminister Bezalel Smotrich nicht aufs Spiel setzen.
Teil dieser Vereinbarung sei auch gewesen, dass sie sich nicht an dem Protest gegen die Justizreform beteiligen, so Politikwissenschaftlerin Talshir. Dass sich die Gewerkschaften in diese politischen Auseinandersetzungen jenseits von Arbeitskämpfen einmischen, ist ungewöhnlich. In der Vergangenheit haben Streiks der Histadrut tiefgreifende Auswirkungen auf das Land und seine Wirtschaft gehabt.
Kurz nach Bar Davids Aufruf blieben die Flugzeuge am Flughafen Ben Gurion auf dem Boden. Krankenpfleger*innen, Anwält*innen, Lehrer*innen traten in den Streik ein. Einkaufszentren schlossen. Splitscreens im Fernsehen zeigen Hunderttausende von Demonstrant*innen in Beer Sheva, Tel Aviv und Jerusalem.
Außerdem wies die Histadrut alle Staatsbediensteten an, in den Streik zu treten, auch in allen diplomatischen Vertretungen Israels in aller Welt. Gleichzeitig rief auch die Gegenseite zu Demonstrationen auf.
Simcha Rothman, Vorsitzender des Ausschusses für Verfassung, Recht und Justiz der Knesset und eine der treibenden Kräfte hinter der Justizreform, forderte die Unterstützer*innen zu Gegenprotesten auf. „Sie werden unsere Wahlen nicht stehlen!“, twitterte Rothman. Auch Yair Netanyahu, der Sohn des Premierministers, rief Unterstützer*innen der Reform dazu auf, sich dieser Demonstration anzuschließen. Die rechtsextreme und gewaltbereite Gruppe La Familia kündigte für Montagabend ebenfalls eine Demonstration vor der Knesset an. Die Polizei bereitet sich auf gewaltsame Zusammenstöße vor.
Neuwahlen zeichneten sich vorerst nicht ab
Itamar Ben-Gvir, Vorsitzender der rechtsextremen Partei Jüdische Kraft, kündigte an, im Fall des Aussetzens der Reform zurückzutreten. Er würde die Koalition weiterhin von außen unterstützen.
Die ultraorthodoxe Partei Schas sprach sich für einen Stopp der Reform aus, die Partei United Torah Judaism sagte dem Ministerpräsidenten ihre Unterstützung zu, welche Entscheidung er auch immer treffe.
Immer öfter fiel auf den Straßen das Wort „Neuwahlen“. Doch diese zeichneten sich zunächst nicht ab. Die Koalitionsparteien dürften weiter an ihrer Regierungsmacht festhalten wollen – auch sie kennen die jüngsten Umfragen, denen zufolge sie massiv an Sitzen verlieren würden.
Unklar war zunächst, wie es am Montagabend weitergehen würde. Als wahrscheinlich galt, dass das Gesetzesvorhaben nach den kommenden Feiertagen erneut aufgegriffen wird. Als ebenso denkbar galt, dass Politiker der Mitte wie Benny Gantz in die Regierung eintreten, um die rechtsextremen Parteien zu ersetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin