Politische Graffiti in Göttingen: Kunst oder Sachbeschädigung?
Im Streit über Graffiti hat die Stadt noch keine Entscheidung getroffen. Der Staatsschutz ermittelt weiter. Das Museum will die Bilder bewahren.
Die Graffiti stießen gleich nach Bekanntwerden in der Öffentlichkeit auf viel Zuspruch, in sozialen Medien wurden sie schnell verbreitet. Unter anderem sicherte die Göttinger Fotografin, Web-Designerin und Bloggerin Katrin Raabe die Bilder auf ihrer Homepage. Grünen- und Linkenpolitiker aus der Region fordern ebenso den Erhalt der Kunstwerke wie der Verein „Stellwerk“. Das Netzwerk der Göttinger Kreativwirtschaft mit nach eigenen Angaben 85 Mitgliedern hat angeregt, die Wandgemälde als hochauflösende Fotografien im Fotoarchiv des Museums für die Zukunft zu bewahren.
„Es geht hier nicht bloß um Sachbeschädigung oder um die Frage, ob es sich dabei um Kunst handelt“, sagte Göttingen Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) der taz. Die Aufrufe, die Stimme für die Stärkung von Frauenrechten zu erheben und für sichere Häfen zu sorgen, „kann man als politisch verstehen und diese Inhalte unterstützen wir als Stadt und ich als Oberbürgermeister“.
„Eine Aufforderung zu Gewalt kann und werde ich allerdings nicht dulden“, so Köhler mit Blick auf einen Teil des Wandgemäldes, der das Gebäude des Neuen Rathauses mit dem Schriftzug „Kommt Zeit – kommt Rat – kommt Farbanschlag“ übertitelt. Kritik zu äußern und sich mit den schwierigen Themen unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen sei zwar wichtig. Allerdings sei schon der Aufruf zu Gewalt wie beispielsweise Farbanschlägen das absolut falsche Mittel, um sich für eine Sache einzusetzen. Neben der juristischen Bewertung wäge die Stadt folglich ab, inwieweit inhaltlich auf das Graffiti reagiert werden soll.
Andrea Rechenberg, Leiterin Städtisches Museum Göttingen
Aus Sicht des Göttinger Museums handelt es sich bei den Graffiti um erhaltenswerte „Kunst im öffentlichen Raum“. „Wir haben uns gefreut, dass ‚Stellwerk‘ uns die Fotodokumentation angeboten hat“, sagte Museumsleiterin Andrea Rechenberg der taz. Das Museum verfüge über ein großes Fotoarchiv, das auch viel für wissenschaftlich Zwecke genutzt werde. „Wir sehen es daher als unsere Aufgabe, diese Bilder und die dazugehörige Auseinandersetzung um deren Inhalt zu dokumentieren.“ Denn auch diese Auseinandersetzung sei von stadtgeschichtlichem Interesse.
Im Übrigen sei „die Geschichte voll mit Berichten über Bilderstreite“, so Rechenberg. „Sie sind immer symptomatisch für die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse einer Zeit.“ Die strittigen Graffiti bildeten aktuelle politische Themen ab, die breit in der Gesellschaft diskutiert würden. Ein Museum sammele und dokumentiere ja auch für spätere Generationen. Diese wollten wissen, „wie wir zu unserer Zeit mit gesellschaftlichen Herausforderungen umgegangen sind, worüber gestritten wurde oder was Konsens war.“
Unterdessen ermittelt die Polizei weiter gegen die Urheber der Graffiti. Sie geht „aufgrund der Inhalte von einer politisch motivierten Protestaktion aus“, deshalb habe das Staatsschutzkommissariat Ermittlungen wegen Sachbeschädigung aufgenommen. Weil die Erstellung der Graffiti „vermutlich mit einem gewissen Zeitaufwand verbunden gewesen“ sei, hofften die Ermittler/innen auf Zeugen, die das Vorhaben beobachtet hätten. Die Polizei habe gar keine andere Wahl gehabt, als den Staatsschutz einzuschalten, begründete Sprecherin Jasmin Kaatz gegenüber der taz die polizeilichen Abläufe. Wenn ein politischer Hintergrund einer Straftat angenommen werde, komme automatisch der Staatsschutz ins Spiel.
Sachbeschädigung gehört zu den relativen Antragsdelikten. Antragsdelikte sind zunächst Straftaten, denen die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich nur auf Antrag des Geschädigten nachgehen. Relative Antragsdelikte können hingegen auch ohne Strafantrag durch den Geschädigten verfolgt werden, wenn die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht. Im Fall der Graffiti hatte die Stadt Anzeige gestellt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen