Politikwissenschaftlerin über die EU: „Solidarität ist hochpolitisch“
In der Coronakrise haben sich die EU-Länder gegenseitig unterstützt. Jana Puglierin hat ein Werkzeug mitentwickelt, das die Hilfsbereitschaft misst.
taz: Frau Puglierin, im April hat sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei Italien dafür entschuldigt, dass Europa dem Land in der Coronakrise nicht genug geholfen habe. Sie und Ihre KollegInnen vom ECFR haben mit dem European Solidarity Tracker nun ein Instrument entwickelt, um zu zeigen, was die EU-Mitgliedstaaten in der Pandemie füreinander getan haben. Wie solidarisch haben sich die Mitgliedstaaten gezeigt?
Jana Puglierin: Insgesamt kann man sagen, dass es Anfangsschwierigkeiten gab. Aber es ist auch zu sehen, dass die Hilfen ab Mitte März sprunghaft angestiegen sind, gerade im medizinischen Bereich. Wenn man auf die Ergebnisse schaut, dann sieht man ein dichtes Netz von Hilfsmaßnahmen, die entweder zwischenstaatlich oder durch EU-Institutionen erfolgt sind und die ganze EU überspannen. Unser Tracker zeigt auch, dass Solidarität absolut nicht nur altruistisch motiviert ist, sondern hochpolitisch. Aber mein Fazit ist auf jeden Fall positiv. Die EU ist besser als das, was bei den Bürgern meines Erachtens hängengeblieben ist.
Woran sehen Sie, dass die europäischen Hilfen nicht nur altruistisch sind?
Ich glaube, wir sollten Solidarität generell weniger romantisieren. Dahinter steckt auch der Gedanke: Wenn man sich heute mit einem Staat solidarisch zeigt, wird einem dieser Staat morgen vielleicht auch helfen. Es ist eine Art Versicherungsmaßnahme. Wir sehen bei dem Tracker wirklich ganz klar, wie Ungarn gezielt Masken an ungarische Minderheiten in den Nachbarstaaten geliefert hat – und zwar nur an diese. Diese Politik des Nationalismus verfolgt Viktor Orbán ohnehin. Das hat gerade in den Nachbarländern viel Kritik hervorgerufen, sie haben von ethnischer Diskriminierung gesprochen. Da sieht man glasklar, dass diese Maßnahmen, die unter dem Etikett Solidarität verkauft werden, einer politischen Agenda dienen.
leitet das deutsche Büro der Denkfabrik European Council on Foreign Relations.
Gibt es ein Land, das mit seinen Hilfsmaßnahmen besonders hervorsticht?
Durch die schiere Masse an Hilfen ist das tatsächlich Deutschland, das sich sehr solidarisch vor allem im medizinischen Bereich gezeigt hat – und mit der Übernahme von Patienten. Deutschland ist natürlich auch das größte, mächtigste und wohlhabendste Land innerhalb der Europäischen Union. Was ich sehr spannend fand, ist, dass ein Land wie Polen relativ früh und auch entschieden zum Beispiel medizinisches Personal nach Italien geschickt hat. Länder, die sich nicht unbedingt in anderen Fragen solidarisch mit Italien gezeigt haben, zum Beispiel in der Flüchtlingskrise, haben hier trotzdem gehandelt.
In Ihrem Tracker gibt es die Möglichkeit, sich die Art der geleisteten Hilfe anzusehen – und die Kategorie „declared“, die Ankündigungen aufzeigt. Stellen Sie ein Diskrepanz fest?
In der Kategorie „declared solidarity“ sieht man, dass es viele Absichtserklärungen gab. Der Tracker wird sich im Laufe der Zeit zu einem Instrument entwickeln, mit dem man die Absichtserklärungen und Solidaritätsbekundungen von Staats- und Regierungschefs an ihren Taten messen kann. Das übergeordnete Ziel unseres Trackers war es, so apolitisch wie möglich zu sein – wir wollten kein Ranking von Staaten, sondern visualisieren und zeigen, wie die Debatte über Solidarität in den Mitgliedstaaten geführt wird. Durch den Knopf „public debate“ können Sie sehen, ob sich ein Land alleingelassen gefühlt hat oder eher als Geberland. Wir wollten zeigen, wie unterschiedlich Solidarität verstanden wird.
Glauben Sie, dass die EU-Mitgliedsländer aus der Pandemiesituation lernen werden?
Der European Solidarity Tracker ist ein interaktiver Datenatlas. Für ihn haben die Zweigstellen der Denkfabrik ECFR Informationen darüber gesammelt, welches EU-Land in der Coronakrise wann wem geholfen hat.
Ich glaube ja. Politisch sieht man das am Beispiel von Deutschland, das nach großen Startschwierigkeiten jetzt die Art der Kommunikation geändert hat. Am Anfang hat die Kanzlerin bei ihren Fernsehansprachen die anderen europäischen Länder nicht einmal erwähnt – jetzt berichtet sie viel darüber, wie betroffen diese sind, und hält den Solidaritätsgedanken sehr hoch. Das hätten eigentlich all die Krisen der letzten Jahre schon zeigen müssen – nämlich dass ein Land manchmal selbst in die Verlegenheit kommt, Solidarität von anderen zu brauchen. Wie sich ein Land heute in der Covid-19-Krise anderen gegenüber verhält, wird sich vielleicht in der nächsten Krise rächen.
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