Politikwissenschaftlerin über Belarus: „Putin auf schmalem Grat“
Die EU darf die Lösung der Krise in Belarus nicht Moskau überlassen, sagt Politologin Marie Mendras. Der Kreml habe nicht allzu viele Optionen.
taz: Frau Mendras, die Köpfe der Oppositionsbewegung in Belarus sind außer Landes oder in Haft. Trotzdem gehen die Menschen weiter auf die Straße.
Marie Mendras: Ich will etwas klarstellen: Wir sprechen hier nicht von der Opposition. Denn die Menschen, die jetzt auf die Straße gehen, haben die Wahl gewonnen. Sie haben es geschafft, eine deutliche Mehrheit der Stimmen hinter der Kandidatur von Swetlana Tichanowskaja zu vereinen. Alexander Lukaschenko ist nicht mehr der Präsident von Belarus. Er hält sich illegal und mithilfe von Repressionen, der Armee und der Polizei an der Macht. Die Opposition sind jetzt die Leute, die noch hinter Lukaschenko stehen. Besonders Tichanowskaja ist sehr aktiv. Sie hat verstanden, dass sie etwas direkter sein muss: Bei ihren Angriffen auf Lukaschenko, aber auch in Bezug auf Europa. Sie sagt jetzt klar, dass sie Europas politische Unterstützung gegen einen Diktator braucht, der nicht abtreten will.
Was wird passieren?
Lukaschenko wird sich nicht mehr lange halten können. Wir müssen uns also schon jetzt auf eine Zeit nach Lukaschenko vorbereiten. Das hat auch Russlands Präsident Wladimir Putin verstanden. Deshalb muss er sich jetzt überlegen, welche Karten er noch ausspielen kann. Für Putin ist das ein schmaler Grad, er hat nicht viele Optionen.
Sie haben gesagt, dass eine Lösung der Krise in Belarus nicht beim Kreml liege. Könnten Sie das erklären?
Nehmen Sie die Erfahrung mit der Ukraine: Putin schafft Probleme, um dann derjenige zu sein, der die Lösung dieser Probleme blockiert. Das wissen wir seit Jahren und wir dürfen nicht in diese Falle tappen. Der Kreml will Lukaschenko nicht um jeden Preis an der Macht halten, weil er das nicht kann. Moskau hat keinen ernsthaften Plan, um in Belarus einzumarschieren, es gibt dort keine Krim und keinen Donbass. Die Belarussen sind heute alle gegen die Diktatur vereint. Auch die Möglichkeiten Russlands, dort einen Mann Moskaus einzusetzen, sind sehr begrenzt.
Glauben Sie wirklich, dass der Kreml passiv bleiben und nicht versuchen wird, das Heft in die Hand zunehmen?
Diese Frage höre ich oft, aber der Kreml kann nicht agieren. Natürlich ist Putins Ziel nicht ein demokratisches Belarus. Aber er kann seinen Willen dort jetzt nicht so einfach durchsetzen. Russland ist kein Staat, der derzeit in der Lage wäre, ein Land in Europa wie Belarus zu besetzen. Aber Putin spielt sein strategisches Spiel mit Europa und der Nato, indem er vorgibt, es gebe eine geopolitische Krise im Herzen Europas und man müsse sich mit ihm verständigen, um diese Krise zu lösen. Aber das ist keine geopolitische Krise, sondern eine Krise in Belarus. Das ist ein friedlicher Volksaufstand gegen einen Mann, der nicht wiedergewählt wurde, aber trotzdem nicht abtreten will. In Wahrheit ist Belarus dabei, die Einflusssphäre Moskaus zu verlassen, so wie die Ukraine und Georgien das bereits getan haben.
Dieser Tage ist viel von einer gemeinsamen europäischen Antwort die Rede. Aber die hat es auch sonst nicht gegeben. Warum sollte das jetzt anders sein?
Ich verstehe nicht, warum die EU immer kritisiert wird. Europa hat gut und schnell reagiert. Alle haben die Gewalt und den Wahlbetrug verurteilt sowie den Rücktritt von Lukaschenko gefordert, um den Weg für neue Wahlen frei zu machen. Gleichzeitig versucht Brüssel einen Dialog mit Russland aufrechtzuerhalten, und das ist auch richtig so.
Trotzdem war gerade Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in der Vergangenheit sehr um bessere Beziehungen zu Russland bemüht.
Glücklicherweise hat das jetzt ein Ende. Schade ist jedoch, dass es dazu erst der Krise in Belarus, der Repressionen dort sowie der Vergiftung des Kremlkritikers Alexei Nawalnys bedurfte, damit der Éysées-Palast die geplanten französisch-russischen Treffen im September abgesagt hat. Der Dialog mit Moskau, den Macron führen wollte, war eine schlechte Strategie. Als jemand, der Russland gut kennt, kann ich nur sagen, dass Putin nie zu wirklichen Verhandlungen oder einem Kompromiss worüber auch immer bereit war, vor allem nicht über den Donbass. Macron war etwas naiv, als er angenommen hat, einen echten Kompromiss mit Putin erreichen zu können.
Jahrgang 1957, ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet zu Russland und den postsowjetischen Raum. Sie forscht am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und lehrt am Institut d’études politiques de Paris.
Es sieht ja im Moment so aus, dass weitere Sanktionen gegen Belarus, aber auch gegen Russland wegen der Vergiftung Nawalnys verhängt werden. Halten Sie Sanktionen für ein probates Mittel?
Sanktionen waren ein relativ effizientes Mittel, wie das Beispiel Ukraine ab 2014 zeigt. Wirtschaftliche Sanktionen gegen einzelne Personen sind ein machtvolles Instrument. Und sie sind das einzige Instrument, das kein militärischer Gegenschlag ist. Sanktionen werden oft kritisiert, aber was wären die anderen Optionen? In den kommenden Wochen wird es weitere Sanktionen gegen Russland und die ehemaligen belarussischen Machthaber inklusive Alexander Lukaschenko geben.
Welche Möglichkeiten hat Europa?
All diejenigen, die hinter Tichanowskaja stehen, haben nie zur Gewalt aufgerufen. Sie sind klar in der Lage, eine kompetente Mannschaft aufzustellen, um in einigen Monaten einen Übergang hin zu einer Verfassungsänderung und Neuwahlen sicherzustellen. Tichanowskaja und ihre Mitstreiter waren da immer sehr eindeutig: Sie wollen nicht die Macht ergreifen, sondern einen Prozess zu Ende führen, der den Belarussen erlaubt, sich für ein neues Verfassungssystem zu entscheiden und ihre Regierung zu wählen. Deshalb müssen wir jetzt den Koordinationsrat unterstützen. Wenn diese Leute, die die Gesellschaft und die Wähler repräsentieren, die Unterstützung der westlichen Demokratien haben, dann verleiht ihnen das Legitimation, Autorität.
Und das wird Moskau beeindrucken?
Mehr Geschichten über das Leben in Belarus: In der Kolumne „Notizen aus Belarus“ berichten Janka Belarus und Olga Deksnis über stürmische Zeiten – auf Deutsch und auf Russisch.
Ich denke ja. Das zeigt, dass es eine politische Alternative in Belarus gibt und Moskau diesen Prozess nicht aufhalten kann. Die EU darf Putin nicht die Lösung dieser Krise überlassen, im Gegenteil: Europa muss Putin zeigen, dass es das Recht hat, sich um die Zukunft von Belarus zu kümmern. Das ist keine Einmischung, das will uns die Kremlpropaganda weismachen. Das ist eine notwendige Haltung, um sicherzustellen, dass die Nachbarstaaten der EU ihre Wahl souverän treffen können.
Das Interview kam mit freundlicher Vermittlung der Berliner Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne zustande.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos