Politiker wegen Betrug verurteilt: Weder Tisch noch Kleiderschrank
Der ehemalige Brandenburger Abgeordnete Peer Jürgens ist wegen schweren Betrugs verurteilt worden. Er hatte zu hohe Fahrtkosten abgerechnet.
Der Angeklagte galt vor einigen Jahren als Hoffnung der Brandenburger Linkspartei. Als Jürgens 2004 in den Landtag gewählt wurde, studierte er noch. Seine Partei stieg bei der Wahl zur zweitstärksten Kraft im Land auf. Zehn Jahre lang saß der Nachwuchspolitiker im Landtag. Die Ermittlungen gegen ihn begannen 2014 – also in dem Jahr, in dem die Linkspartei in Potsdam zum ersten Mal Teil einer Landesregierung wurde.
Constanze Rammoser-Bode verurteilt ihn wegen schweren gewerbsmäßigen Betrugs und Wahlfälschung. Das Schöffengericht sieht es als erwiesen an, dass Jürgens über zehn Jahre lang einen falschen Wohnsitz angegeben und so zu Unrecht Mietzuschüsse und Fahrtkosten kassierte.
Nach seiner Wahl 2004 meldete Jürgens sein Elternhaus in Erkner als Hauptwohnsitz an, ab 2011 eine Wohnung in Beeskow. Beide Orte liegen weit weg von Potsdam im Landkreis Oder-Spree. Er erhielt als Pendler insgesamt 69.700 Euro Fahrtkosten. In Wahrheit soll er erst in Berlin, dann in Potsdam gelebt haben. Dort kaufte er 2009 eine Eigentumswohnung. Trotzdem erhielt er Mietkostenzuschuss. Die 7.400 Euro hat er dem Landtag bereits zurückgezahlt.
Die Richterin spricht von einem „Indizienball“
Außerdem wurde Jürgens 2009 in den Kreistag in Oder-Spree gewählt. Laut dem Schöffengericht war das Wahlfälschung. Denn eigentlich darf nur kandidieren, wer im Wahlkreis lebt.
Die Strafe: ein Jahr und zwei Monate Haft auf Bewährung. Außerdem muss er die Prozesskosten und eine Geldstrafe von 7.200 Euro zahlen.
Als er das Urteil hört, schaut Peer Jürgens noch ernster als sonst und reibt sich das Kinn. Die Haut in seinem Gesicht ist rot und wirkt ausgetrocknet. Die Haare des 36-Jährigen sind in den letzten Monaten teilweise ergraut. Jürgens' lange Wimpern blinzeln heftig.
Dann schluckt der Verurteilte und sieht der Richterin ins Gesicht. Die erklärt ihm höflich und sachlich, dass sie sein damaliges geringes Alter für einen milderndem Umstand hält, ebenso sein Teilgeständnis und vor allem die „Nachteile“, die er durch Ermittlungen und Verfahren hatte. Diese haben unter anderem seine politische Karriere beendet.
„Muss er denn Gardinen haben?“
Angeklagt wurde Jürgens im Oktober. Der Prozess hat sich vor allem deswegen in die Länge gezogen, weil das Gericht Jürgens‘ Hauptwohnsitz, also sein Lebensmittelpunkt feststellen musste. Das geht, wie Rammoser-Bode sagt, nicht mit „dem einen Kronzeugen“ oder „dem einen Hauptbeweismittel“. Stattdessen spricht sie von einem „Indizienball“. Der Wohnsitz wurde anhand von Stromverbrauch, Zeitungsabo und Fahrradschloss ermittelt. So habe es, schildert die Richterin, in der Wohnung in Beeskow weder Tisch noch Kleiderschrank noch Garderobenhaken gegeben. Dort den Lebensmittelpunkt zu sehen, sei „lebensfremd“.
„Einen Indizienball gibt es im Strafrecht nicht“, kommentiert Jürgens' Anwalt Norman Lenz nach dem Prozess. Die Idee des Hauptwohnsitzes sei „kleinbürgerlich“. „Mein Mandant ist jung und hat ein aktives Leben. Muss er denn Gardinen haben?“, empört sich Lenz.
Er kündigt an, Rechtsmittel einzulegen; höchstwahrscheinlich werde sich Jürgens für eine sogenannte Sprungrevision entscheiden. Das heißt, die Berufung in erster Instanz wird übersprungen und keine neuen Beweise mehr ermittelt. Stattdessen werden bei der Sprungrevision Rechtsfragen erörtert.
Im Fall Jürgens wird es dabei wohl vor allem um Fotos gehen, die Ermittler 2014 bei zwei Hausdurchsuchungen gemacht haben. Das Landgericht hat die Durchsuchungen von Jürgens‘ Potsdamer und Beeskower Wohnung für rechtswidrig erklärt. Dass das Gericht daraus kein Beweismittelverbot abgeleitet habe, halte er für einen „Skandal“, sagt Lenz der taz.
Keine „Vorbildfunktion“
Rammoser-Bode bezieht sich in ihrer Urteilsbegründung mehrfach auf die Fotos. Als sie die ordentlich in Regale sortierten Akten in Jürgens' Potsdamer Wohnung beschreibt, schwingt sie die Arme wie eine Orchesterdirigentin.
Als erschwerend empfindet Rammoser-Bode die Dauer des Betrugs. „Zehn Jahre lang hätten Sie immer wieder Zeit gehabt zu sagen: Jetzt ist Schluss“, tadelt die Richterin, „das zeigt doch eine gewisse kriminelle Energie“. Außerdem kritisiert sie, dass Jürgens seiner „Vorbildfunktion“ als Politiker nicht gerecht geworden sei. Der „große Vertrauensbruch“ gegenüber den Bürgern könne Politikverdrossenheit fördern.
Jürgens Bewährung ist drei Jahre lang. Er muss in dieser Zeit straffrei bleiben und dem Amtsgericht Potsdam „immer die aktuelle Wohnanschrift melden“. Die unfreiwillige Komik des Spruchs, den sie herunter leiert, bemerkt die Richterin erst, als einige Zuschauer lachen. Peer Jürgens lacht nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt