Politik in Großbritannien: So geht es nicht weiter
Endlich Brexit umsetzen! Endlich Klimawandel stoppen! Wie der britische Drang nach Veränderung auch die britische Politik verändert.
Wer in Großbritannien mit Menschen spricht, braucht nicht lange, um zu herauszufinden, dass viele der Politik müde sind. Mit einer Rekord-Wahlbeteiligung von 72 Prozent war das beim Brexit-Referendum 2016 noch anders. Der lange Brexitprozess danach hat die Menschen danach frustriert.
Der Brexit wurde weder vollzogen, wie es die Brexiteers erwarteten, noch wurde er gekippt, wie es die proeuropäische Kampagne „People's Vote“ mit Großdemonstrationen herbeiwünschte. Vielmehr haben sich an diesen beiden Fragen die beiden großen Parteien, Konservative und Labour, tief intern zerstritten und handlungsunfähig gemacht.
Damit büßten sie viele Sympathien ein. Im angeblich politisch desinteressierten Großbritannien zitieren die Menschen in Reaktion auf die Entwicklung gerne die Lebensweisheit „Let’s get on with it“.
So breitete sich in den vergangenen Wochen Nigels Farages Brexit Party schneller über Großbritannien aus, als viele Beobachter es für möglich gehalten hatten, nachdem Pro-Brexit-Märsche zuvor äußerst dünn besetzt waren. Innerhalb von vier Wochen verschrieben sich 100.000 Unterstützer*Innen der Brexit Party, obwohl die weder eine echte Parteimitgliedschaft hat noch ein Wahlprogramm.
Der Brexit soll durchgezogen werden
Attraktiv ist für sie einfach die Grundforderung, die bereits im Namen der Partei enthalten ist: Dem demokratischen Votum von 17.4 Millionen Brexitwähler*Innen müsse gefolgt und der Brexit durchgezogen werden.
Es ist eine für Großbritannien ungewohnte neue außerparlamentarischen Opposition. Nigel Farage wiederholt oft, dass es ihm weniger um eine Partei als um eine „neue Bewegung aller möglichen Leute und der verschiedensten Hintergründe“ gehe. Was die Leute zusammenbringe, sei der Wunsch nach Demokratie.
Auf den Veranstaltungen der Partei betonen die Leute, dass sie doch gewählt hätten, aber die Politik in Westminster ihre demokratische Stimme ignoriere, dass sie an Großbritannien glauben und dass das Geld, das an die EU fließt, lieber für die großem Probleme des eigenen Landes wie das Gesundheitssystem und verarmte Regionen auszugeben sei. Sie sehen sich global orientiert über die Begrenzungen Europas hinaus. Es sind keineswegs nur rechtsorientierte Nationalisten, die so reden.
Klarheit in der Botschaft gibt es auch bei einer ganz anderen außerparlamentarischen Bewegung, die in den letzten Monaten Aufmerksamkeit erzielt hat: die Extinction Rebellion mit ihren Straßenblockaden und Demonstrationen für eine entschlossenere Klimapolitik, verstärkt schließlich durch die Fridays for Future-Initiative weltweiter Schülerproteste.
Präzise und klar sind die Forderungen der Extinction Rebellion: die Wahrheit sagen über den Klimawandel, ein Emmisionsnetto-Null bis zum Jahr 2025, und die Einführung von Bürgerversammlungen. Im Stau vor den besetzten Straßen Londons und anderorts gab es kaum böse Worte dafür.
Bewegungen haben die Politik verändert
Die Proteste führten zum Erfolg: das britische Parlament rief als erstes Land weltweit den Klimanotstand aus, die Grünen – bisher die einzige Partei, die die Forderungen der Klimaproteste mitträgt – konnten bei den Kommunalwahlen Anfang Mai ihren Stimmanteil mit 9,2 Prozent fast verdreifachen.
Das Alter der Klima-Aktivist*Innen deutet eindeutig auf die Themen der Politik von Morgen. Aber ihr Problem mit der bestehenden Politik ist alt, ähnlich wie das der Brexiteers: Sie fühlen sich nicht vertreten, vor allem nicht im britischen Mehrheitswahlrecht.
Die Grünen haben bisher nur eine Abgeordnete im Unterhaus. Farages Vorgängerpartei Ukip, die 2014 die Europawahl gewonnen hatte, gewann bei den Parlamentswahlen 2015 trotz über 12 Prozent der Stimmen ebenfalls nur einen Sitz. Beide, Grüne wie Ukip, forderten und fordern eine Reform des Wahlsystems.
Aber wozu eigentlich, wenn es auch ohne parlamentarische Vertretung gehen könnte, wie das Brexit-Referendum und auch die Extinction Rebellion beweisen? Diese Bewegungen haben die Politik verändert.
Nicht mehr voluminöse Parteiprogramme, in denen auf 100 Seiten sämtliche denkbaren Themen abgehandelt werden, interessieren die Wählerschaft. Es geht um klare Ziele mit wenig Worten.
Bei den Klimaprotesten sprechen die meisten Befragten vom Recht auf Zukunft und von der fehlenden Reaktion der Politik und der Geschäftswelt auf offensichtliche Fakten, von Herausforderungen weit über die Insel hinaus. Der Unterschied zur Brexitbewegung ist am Ende: Die einen denken global, aber wollen, dass Großbritannien davon profitiert; die anderen denken global und wollen, dass die ganze Welt besser wird.
Mit Klarheit der Botschaft ist es jedoch so eine Sache. Sowohl beim Brexit als auch bei der Klimapolitik steckt der Teufel im Detail. Was für ein Brexit war 2016 eigentlich gemeint? Was heißt es konkret, den Klimanotstand auszurufen?
Ein zweites Referendum
Zu diesen Fragen gibt es keine einheitlichen Meinungen in den außerparlamentarischen Bewegungen. Könnte ein zweites Referendum mit präzisen Optionen die Brexit-Frage beantworten – oder wäre das undemokratisch, wenn das heißt, das erste Referendum zu ignorieren?
Bezeichnenderweise gibt sich Farage für ein zweites Referendum offen, weil er sicher ist, es gewinnen zu können, anders als viele Konservative, die an sich selbst zweifeln. Aber sollte es dann nicht auch ein Referendum über die Definition des Klimanotstandes geben? Könnten da Bürgerversammlungen Klarheit schaffen, so wie es die Extinction Rebellion fordert? Vielleicht helfen sie ja bei der Gelegenheit auch den den Schwierigkeiten des Brexits auf die Sprünge?
Inzwischen plädieren mehrere Abgeordnete dafür. Selbst der konservative Umweltminister und Brext-Befürworter Michael Gove schließt es nicht aus. Das ist nicht nur signifikant, weil Goves eigene Tochter, sie hat noch gar kein Wahlrecht, bei den Schulstreiks gegen den Klimawandel mit dabei war, sondern weil er sich um Theresa Mays Nachfolge bemüht und als einer der aussichtsreichsten Kandidaten gilt.
Ein Premierminister Michael Gove könnte Umweltanliegen mit denen des Brexit sogar in einer Person verknüpfen.
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