Polen vor der EU-Wahl: Gegen Verräter und bezahlte Knechte
Das Entsetzen in Polen ist groß seit der Flucht eines Richters nach Belarus. Die russische Bedrohung ist das große Wahkampfthema der Regierungspartei.
Dennoch fürchtete sich in Polen kaum jemand vor einem Krieg mit Russland. Die Mitgliedschaft in EU und Nato schien eine Garantie für Frieden und Wohlstand. Das ändert sich gerade. Denn mit der Flucht eines polnischen Richters nach Belarus und seiner Bitte um politisches Asyl in diesem autoritären Staat, wurde den Polen schlagartig klar: Russland ist schon hier!
Die Gefahr droht also nicht nur von außen. Zwar wurden auch in der Vergangenheit immer mal wieder verdächtige Personen und tatsächliche Spione in Polen festgenommen, wehrten wichtige Behörden wie große Unternehmen Cyberattacken aus dem Osten ab, doch die meisten Polen ließen sich davon nicht beunruhigen.
Anders als in den baltischen Staaten plante niemand mehrere potentielle Fluchtrouten für den Fall eines russischen Angriffs, packte kaum jemand einen Fluchtrucksack oder legte sich einen Notvorrat an Essen und Trinken für zehn Tage an. Lediglich an der Ostgrenze des Landes schlossen sich beunruhigte Polen dem Heimatschutz an, absolvieren seitdem regelmäßige Militärübungen und dürfen auch – nach dem Erwerb eines Waffenscheins – Pistolen und Gewehre zu Hause aufbewahren.
Russland und die PiS
Mit „Russland ist schon hier“ beginnt eine Art Horror-Wahlspot der liberalkonservativen Bürgerplattform (PO). Seit Dezember 2023 stellt sie in einer Dreierkoalition mit dem christdemokratischen Dritten Weg und der Neuen Linken die neue Regierung in Warschau. „Russlands größter Erfolg in Polen ist die PiS“, scheppert eine düstere Stimme aus dem Wahlspot-Off. Die PiS oder Recht und Gerechtigkeit hatte von 2015 bis 2023 regiert, Polens Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weitgehend zerstört und die bislang guten Beziehungen zu Deutschland, Frankreich und insbesondere der EU bewusst verschlechtert.
„Erst gewannen sie die Wahlen, indem sie auf das illegal erworbene Material eines Kohleimporteurs aus Russland zurückgriffen. Und dann vergrößerten sie seinen Import“, sagt die Stimme zu dröhnenden Bässen und rasendem Bildwechsel. Alle Hinweise, die auf einen wachsenden Einfluss der belarussischen und russischen Geheimdienste hindeuteten, seien unter den Teppich gekehrt worden. Dafür habe Tomasz Szmydt dank des Einflusses und der Unterstützung führender PiS-Politiker eine atemberaubende Karriere hingelegt – „bis vor Kurzem Richter, in Wirklichkeit ein Spion, der nach Belarus geflohen ist“.
Dann verspricht die PO, die „russischen und belarussischen Einflüsse auf die Regierungen der Vereinigten Rechten“ aufklären zu wollen. Premier Donald Tusk kommt ins Bild. Vom Rednerpult des Sejms aus ruft er den Abgeordneten und allen Polen zu: „Die Abkürzung der Polnischen Vereinigten Rechten PZP kann auch aufgelöst werden als ‚Bezahlte Verräter und Knechte Russlands‘ PZPR.“ Dies ist zugleich die Abkürzung der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, die von 1948 bis 1989 diktatorisch in Polen herrschte und erst in der Solidarnosć-Zeit friedlich abgewählt werden konnte.
Im Wahlspot fällt kein einziges Mal das Wort „EU“. Es wehen keine blauen EU-Flaggen, und auch die Ode an die Freude, die Europa-Hymne, ist nicht zu hören. Denn der Spot macht auch so klar, dass die EU untergehen oder zumindest sehr viel schwächer sein wird, sollten diese inneren Feinde als Abgeordnete ins EU-Parlament einziehen.
Auch wenn etliche polnische Intellektuelle den PO-Wahlspot scharf kritisieren, da er wie aus der Propagandakiste der PiS zu stammen scheint, gehen die Umfragewerte für die PO doch nach oben. Die zahlreichen PO-Politiker-Auftritte, in denen auch die soziale Sicherheit der Polen beschworen wird, tun ein Übriges.
Die neueste Umfrage des Instituts Opinia24 mit der Frage „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag schon der 9. Juni wäre, also der Wahltag zum Europäischen Parlament?“ zeigt mit 31 zu 29 Prozentpunkten zum ersten Mal seit vielen Jahren einen leichten Vorsprung der PO vor der PiS in der Wählergunst der Polen. Die Nationalpopulisten von der PiS hingegen müssen von Umfrage zu Umfrage weitere Verluste hinnehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin