Plattenbau Ost als Kunstobjekt: Projektionsfläche Platte
Die Architektur in DDR war ambivalent. Platte gilt nicht als schön, aber war in der DDR verheißungsvoll und könnte es wieder werden.
Ob Leipzig-Grünau, Jena-Lobeda, Berlin-Marzahn: Plattenbauviertel der DDR waren für die Menschen, die in ihnen wohnten, Sehnsuchtsort und Fluch zugleich. Sie bedeuteten einerseits Lebensqualität, andererseits Wohnen im Einheitsformat.
Der Antagonismus dieser seriellen Architektur kommt jetzt wieder in den Sinn, wenn Bundesbauministerin Klara Geywitz verspricht, jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen bauen zu lassen. Schnell, günstig, vor allem in den Städten soll gebaut werden. Kommt die Platte – wie die Bauten mit vorgefertigten Wänden genannt werden – nun etwa wieder? Und auch die Vorbehalte ihr gegenüber?
Mit ihrer Ausstellung „Utopie auf Platte“ widmet Künstlerin Wenke Seemann dieser Architektur der Moderne in der Kunsthalle Rostock eine ambivalente Liebeserklärung.
Ab Mitte der 1960er Jahre entstanden im Nordwesten der Ostseestadt große Neubauviertel, Häuserblocks mit 40.000 Wohnungen für über 100.000 Menschen: Lütten-Klein, Evershagen, Schmarl, Groß Klein und Lichtenhagen, das wegen rechtsradikaler Ausschreitungen im August 1992 bittere Bekanntheit erlangte.
„Utopie auf Platte“: Wenke Seemann, Kunsthalle Rostock, bis 28. August.
Chronist eines der größten Bauprojekte
Der Schiffsbauer Detlef Seemann, der Vater der Künstlerin, hielt mit seiner privaten Fotokamera das Entstehen der Siedlungen fest. Damit wurde er zum Chronisten eines der größten Bauprojekte der DDR. Zehn Umzugskartons mit Negativen und Abzügen hinterließ er nach seinem Tod im Jahr 2018. Die alten Aufnahmen bilden nun das Ausgangsmaterial für Seemanns Auseinandersetzung mit der Platte, dem Leben mit und in ihr.
In der Rostocker Kunsthalle ergänzt Seemann die Zeitdokumente ihres Vaters, collagiert sie zu weiten Ansichten der Siedlungen und fügt ihnen Dinge aus dem Alltag hinzu, darunter Stücke von Tapeten, die damals in den Wohnungen verklebt wurden, mit großblumigen Mustern in Braun, Orange, Weiß.
Dachzimmer mit Kohleofen und ohne Bad
Die historischen Fotografien schicken die Betrachterin in Wenke Seemanns Kindheit. Die heute 44-Jährige ist in Lichtenhagen und in Groß Klein aufgewachsen, ehe sie vor gut zwanzig Jahren nach Berlin zog. „Für meine Eltern ist die Aussicht auf eine Neubauwohnung in Groß Klein mehr als verheißungsvoll“, notiert sie zu einem Foto der Baustelle von Groß Klein, das als letztes der neuen Wohngebiete ab 1979 entsteht. Zu diesem Zeitpunkt lebten sie und ihre Eltern noch im Haus der Großeltern, in eineinhalb Dachzimmern mit Kohleofen und ohne Bad.
1982 zog die Familie in eine der damals begehrten Wohnungen. Bis aus den Baustellen bewohnbare Viertel mit befestigten Straßen, Kaufhallen und Schulen wurden, „standen die Straßenzüge wortwörtlich in Schlamm und Dreck“, schreibt Seemann weiter. „Die sich wandelnden Baustellen waren unsere Abenteuerspielplätze. In den Schlammpfützen haben wir Dämme gebaut und Kaulquappen gefangen. Nur die elterlichen Pfiffe oder Rufe zum Essen unterbrachen unser Spiel.“ Aufwachsen im Neubaugebiet war überall in der DDR eine kollektive Erfahrung.
So jung, trotzdem eine Bedrohung
Die Architekt:innen planten die DDR-Plattenbauten durchaus im Sinne der Menschen. „Der städtebauliche Anspruch war damals, jedem Neubaugebiet, auch aus soziologischen Überlegungen heraus, eine eigene Identität zu geben, die es erkennbar macht und den Bewohnern ermöglicht, es als ihres zu definieren“, zitiert Seemann in der Ausstellung den Architekten Michael Bräuer, der in den 1970er und 1980er Jahren die Rostocker Neubaugebiete mitplante. Auf großen Tafeln mit den Grundrissen der Viertel bildet Seemann jetzt die einzelnen Gebäude in den verschiedenen Originalfarben der einstigen Häuserfassaden ab.
Bis sie den Nachlass ihres Vaters sichtete, war Wenke Seemanns Sicht auf „die Platte“ verhalten. Denn nach dem Mauerfall löste die Erfahrung einer sozialen Segregation in Rostocks Neubauvierteln die heiteren Kindheitserinnerungen ab. Beliebte Kleidungsstücke waren plötzlich Lonsdale-Shirts und Bomberjacken – die Zeichen der Neonazis. „Kid-Glatzen haben wir damals gesagt, weil viele, die in diesen Klamotten steckten, noch so jung und trotzdem eine Bedrohung waren“, erzählt Seemann im taz-Gespräch. So schillernd wie die Erinnerungen an die Platte ist bis heute die Architektur selbst. In Berlin wohnt Seemann übrigens in einem Plattenbau.
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