piwik no script img

Planwirtschaft in der PandemieGesellschaftliche Nebenwirkungen

Privateigentum und Markt sind keine gute Ideen. Kommt jetzt die Planwirtschaft – oder hat unser Kolumnist einen Impfschaden?

Symbol für „gute Ernte“: China ist im Jahr des Ochsen, und führt noch immer einen Fünfjahresplan Foto: Andy Wong/ap

I m Jahr 1895 entwickelte der Münchner Ingenieur Carl von Linde ein Verfahren, um Sauerstoff auf –183 Grad Celsius abzukühlen, bis dieser flüssig wurde. So konnte man ihn in Flaschen füllen und transportieren.

125 Jahre später erlebt die Welt eine Pandemie, und Sauerstoff ist knapp. In indischen Krankenhäusern werden Beatmungsgeräte abgestellt, Menschen ersticken. Die Luft, die wir atmen, wenn wir krank sind, ist eine Ware.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Diese Ware gehört auch heute oft der Firma Linde, dem Weltmarktführer. Linde sitzt nicht mehr in München, sondern in Irland (die Steuern!) und produziert viel in Indien, aber für den Export. Der Aktienkurs ist im vergangenen Jahr um 40 Prozent gestiegen. Um es mit den Analysten von deraktionaer.de zu sagen: „Linde ist gut durch die Corona-Pandemie gekommen und zeigt sich auch für 2021 optimistisch.“

Aber es gibt auch gute Coronanachrichten: Ich wurde geimpft! Die Ärztin hat mich über die Nebenwirkungen aufgeklärt, Schüttelfrost, Fieber, Thrombosen. Wenn ich Halluzinationen habe, solle ich schnell ins Krankenhaus. Ich spüre noch eine Nebenwirkung, keine persönliche, sondern eine gesellschaftliche: Der Sozialismus ist nah.

Die Vorzüge der Planwirtschaft

Lassen Sie mich ausreden, bevor Sie den Krankenwagen rufen! Es mag am steigendem Fieber liegen, mit dem ich diese Kolumne schreibe, aber während in Indien die Verheerungen des Marktes deutlich werden, zeigen sich im Westen gerade die Vorzüge der Planwirtschaft.

Wer wann geimpft wird, entscheidet kein Markt, sondern Ethikrat und Impfkommission. Die Liste mit den Prioritätsgruppen mag nicht perfekt sein, aber in dieser Woche wurden gezielt Obdachlose in Hamburg geimpft, weil sie dem Virus besonders ausgeliefert sind.

Die Überlegenheit der Planwirtschaft zeigt sich seit über einem Jahr – ob bei der Vorhaltung von Intensivbetten oder der fehlenden Produktion von Masken in Deutschland.

Und nicht nur in der Pandemie kann man diesen Trend beobachten. Man sieht ihn auch bei der Avantgarde des Kapitalismus, den Tech-Giganten. Amazon, Facebook und Google funktionieren längst wie riesige Planwirtschaften. Amazon weiß, was wir suchen, bevor wir es wissen. Ausgeliefert wird entlang einer akribisch geplanten Logistik.

Die Theoretiker des freien Marktes gingen davon aus, dass der Markt dem trägen Planungsstab einer nationalen Ökonomie überlegen ist, weil er aus Angebot und Nachfrage den besten Preis destilliert. Nun zeigen die Internetkonzerne, dass nicht der Markt, sondern der auf Algorithmen basierte Plan die ertragreichste Methode ist.

Gebt die Patente frei!

Wenn sich beim Impfen und im Silicon Valley zeigt, wie gut das funktioniert mit der gesteuerten Verteilung, wieso übertragen wir das nicht auf andere Bereiche? Klingt unrealistisch, aber wer hätte vor einer Woche gedacht, dass sich ausgerechnet die USA dafür einsetzen, die Patente für Impfstoffe auszusetzen, während die in der Planwirtschaft aufgewachsene deutsche Kanzlerin dagegen ist.

Und wenn wir schon dabei sind, könnten wir noch ein paar andere Patente freigeben, nicht nur für geistiges Eigentum, sondern auch für materielles. Das Patent für Wohnungen, zum Beispiel, es nennt sich Grundbuch. Oder für den Sauerstoff von Linde.

Sauerstoff und Impfstoff gehören nicht in Privateigentum. Denn während die deutsche Planwirtschaft in der nächsten Woche die Biergärten öffnet, ersticken in Indien die Kranken. Die Coronanachrichten werden in der Zeitung weiter nach hinten wandern. Aber das Virus wird sich nicht so leicht verdrängen lassen wie andere Krisen. Mutanten brauchen keine Schlauchboote.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Kersten Augustin
Ressortleiter Inland
Kersten Augustin leitet das innenpolitische Ressort der taz. Geboren 1988 in Hamburg. Er studierte in Berlin, Jerusalem und Ramallah und wurde an der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München ausgebildet. 2015 wurde er Redakteur der taz.am wochenende. 2022 wurde er stellvertretender Ressortleiter der neu gegründeten wochentaz und leitete das Politikteam der Wochenzeitung. In der wochentaz schreibt er die Kolumne „Materie“. Seine Recherchen wurden mit dem Otto-Brenner-Preis, dem Langem Atem und dem Wächterpreis der Tagespresse ausgezeichnet.
Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • @TAZTIZ

    Ich weiss nicht, was Sie auf die Idee bringen könnte.

    Vielleicht projizieren Sie aber nur. Keine Ahnung.

  • 7G
    7363 (Profil gelöscht)

    Super witzig geschrieben, subtiler Stil :)

  • 7G
    7363 (Profil gelöscht)

    Ich finds gut, weiter so!

  • Die Ur-Methode zur Sauerstoffherstellung ist nicht mehr durch das Patent geschützt. Die Laufzeit ist begrenzt.



    Siege Generika an Arzneimitteln.



    In Indien fehlt Sauerstoff, weil die Herstellungsanlagen nicht vom Himmel fallen. Da hat der Amazon-Algorithmus wohl versagt?

  • Sorry, ein Artikel vom Typus "es ist alles gesagt, nur nicht von jedem".



    Es fehlt doch leider an allen Stellen an Tiefgang, auch wenn es nur eine Kolumne ist, so ist alles vermischen doch selten ein Erfolgsrezept.

    Sauerstoff? Ist kein Privateigentum. Ist in der Luft vorhanden. Jeder kann ihn da separieren. Machen halt nur drei Firmen. Das es nur drei sind ist eine kapitalistische Marktkonzentration. Der Prozess lohnt sich ausserhalb von den jetzigen Bedarfspitzen wohl nicht für kleinere Unternehmen.

    • 7G
      7363 (Profil gelöscht)
      @fly:

      Ja schon, alles vermischen immer heikel, aber so lassen sich eben auch ungeahnte Paralellen entdecken! Ich finde die Gedanken hier bereichernd. Wenn man auch nicht alles so ernst nehmen muss. Ich glaube nicht, dass der Anspruch hier eine tiefe Analyse ist.

      Zum Sauerstoff: Seize the means of productions gilt auch hier, ja der Rohstoff ist überall vorhanden, aber eben nicht die Mittel ihn in Flaschen zu füllen. Diese Art Impfstoff und Sauerstoff in gleicher Weise nur den Reichen zugänglich zu machen, sei es durch Patente oder Produktionsmitteleigentum, ist doch ein völlig klarer Zusammenhang.

  • "Wenn sich beim Impfen und im Silicon Valley zeigt, wie gut das funktioniert mit der gesteuerten Verteilung, wieso übertragen wir das nicht auf andere Bereiche?"

    Weil die Debatte um Markt- vs. Planwirtschaft eine Scheindebatte ist. Weil die, die gerade den Vorteil haben sich Lautsprecher leisten können, die den grössten Unsinn plausibel erscheinen lassen (schauen Sie sich die Hintergründe des "Nobelpreises" in Ökonomie mal an, um zu wissen, was ich meine).

    Weil sich mittlerweile eine ganze Branche enfacht hat, die ziemlich gut darin ist, Experten zu simulieren. Illustration gefällig? Christian "I'm not an expert, but I play one on TV" Lindner.

    Weil, heute vielleicht noch verbessert, sich sogar Graswurzelrevolutionen simulieren lassen. Denken Sie nur an den Aufstand der chinesischen [1] Patriot*innen, als H&M es wagte zu kommunizieren, keine Baumwolle aus Xinjiang mehr kaufen zu wollen.

    Interessante Zeiten. Nicht aufgeben.

    [1] Nur ein Beispiel -- ich halte zwar die chinesische für eine autokratische Regierung, aber andere können diesen Mist auch. Brexit, z.B., auch Trump.

    • 7G
      7363 (Profil gelöscht)
      @tomás zerolo:

      Warum soll Plan vs Markt denn nun eine Scheindebatte sein?

      Was soll das denn mit Schein-Experten und Revolten zu tun haben?

      Mir scheint sie kommen nach dem ersten Satz ihres Kommentar vom Thema ab...

      Ich kann ihrer Argumentationslogik nicht wirklich folgen.

      Die Frage Markt vs Plan ist ganz u garnicht eine Scheindebatte.

      Es ist eine Frage über die sich Ökonomen, Logistiker, Mathematiker, Supplychain Manager, und Politiker heute immernoch den Kopf zerbrechen (sehe gerade den CEO von Whirlpool über Chip Shortage reden).

      Die hippe Agile Projektmanagment Methode "Kanban Board" ist letztlich auch nur interne dynamisierte Planwirtschaft, entwickelt und optimiert von Toyota in den 80ern.







      Sie ist nur nicht - wie sich heute umso mehr sehen lässt - nicht binär und nicht ideologisch zu beantworten.

    • @tomás zerolo:

      Trotzdem würden Sie keinen Tag unter einer „chinesischen“ Variante der Gesellschaft leben wollen. Eine TAZ gäbe es da auch nicht.