PiS-Chef Jarosław Kaczynski: Auf Zeit-Flucht vor Verantwortung
Polens Ex-Premier gräbt alte Anschuldigungen gegen Russland aus. Da ist eine Finte, um der Verantwortung für die verlorene Wahl zu entkommen.
V or ein paar Wochen unterhielten wir uns in einem Bostoner Café mit einem Mann, den wir zufällig trafen. Als er hörte, dass wir aus Polen kommen, reagierte er begeistert: „Aus Polen? Bravo! Die Polen haben ihren nächsten historischen Sieg errungen – dieses Mal habt ihr gegen den Populismus gewonnen!“ Es war sehr schön, diese Worte zu hören. In der Tat ist Polen seit den Parlamentswahlen im Oktober ein Quell der Hoffnung für Freunde der Demokratie auf der ganzen Welt.
Das Land ist aber nicht nur ein Laboratorium für die Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit. Es ist auch ein Laboratorium für die Koexistenz von demokratischen und populistischen Parteien. Die populistische PiS – ob man sie nun mag oder nicht – ist ein struktureller Bestandteil der polnischen Politik und wird uns noch lange erhalten bleiben. Genauso wie die AfD wohl für lange Zeit in Deutschland bleiben wird.
Polen stehen 2024 zwei wichtige Wahlen bevor – Kommunal- und Europawahlen –, und die PiS ruht sich deswegen keineswegs aus. Die Aktivitäten ihres Präsidenten Jarosław Kaczyński sind gar besonders bemerkenswert.
Kürzlich beschloss Kaczyński, seinen Zuhörern eine kurze Lektion in Rechtsgeschichte zu geben, und stellte in einer einzigen Aussage Donald Tusk und Adolf Hitler gleich. Er sagte genau das: „Tusks Wille ist das Gesetz. Nun, es gab schon andere, deren Wille Gesetz war. Der Wille des Führers war das Gesetz.“
Inhaltlich ist das natürlich unappetitlicher Unsinn. Überhaupt ist es schwierig, auf solche Vergleiche mit einem der schlimmsten Verbrecher der Welt, der auch für den Massenmord an den Polen verantwortlich ist, vernünftig zu reagieren.
Das ist aber noch nicht das Ende der Geschichte. Als ob er noch nicht genug hätte, beschloss Kaczyński, den Vorwurf vom angeblichen „Smolensk-Attentat“ zu wiederholen, und bezog sich dabei auf den Absturz des Präsidentenflugzeugs im Jahr 2010. In barocker Manier erklärte er: „Lech Kaczyński starb bei dem Absturz, aber dieser Absturz war das Ergebnis eines Attentats. Und so war das Attentat von Smolensk sicherlich das Ergebnis seiner immer effektiver werdenden Politik gegenüber Russland.“ Bedeutet das, dass Kaczyński den Bezug zur Realität verloren hat, wie manche ihm unterstellen?
Eigentlich ist das überhaupt nicht von Bedeutung. Zunächst einmal kämpft Kaczyński nach seiner Niederlage mit zentrifugalen Tendenzen innerhalb seines Lagers. Der Rückgriff auf den Radikalismus ermöglicht es ihm, geschickt von der Verantwortung für die verlorene Wahl abzulenken.
Das Säen von „semantischem Chaos“, das Umkehren der Bedeutung grundlegender Wörter war das Markenzeichen der letzten acht Jahre – heute haben wir eben die Premiumversion.
Den Bezug zur Realität verlieren, kann für die Politiker auch bedeuten, dass sie in der Realität von „damals“ bleiben wollen, in der nach wiederholten Verstößen gegen die Verfassung von 1997 plötzlich schnelle Karrierewege für die Willigen eröffnet wurden und eine starke Parteiloyalität aufgebaut.
Angesichts des täglichen Kampfes, der heute in den polnischen Institutionen um die Rechtsstaatlichkeit geführt wird, und der Tatsache, dass die Umfragewerte der PiS keineswegs dramatisch sinken, müssen die polnischen Verteidiger der Demokratie dasselbe lernen wie ihre Verbündeten in ganz Europa: Um langfristig gegen die Populisten zu gewinnen, muss man besser, interessanter, engagierter und effizienter sein als die populistische Konkurrenz.
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