Philosoph Markus Gabriel: „Vor Twitter habe ich Angst“
Wie wird die Welt besser? Der Philosoph Markus Gabriel über moralisches Wachstum, China, soziale Medien und Irrtümer in Identitätsdebatten.
taz am wochenende: Herr Gabriel, Sie sprechen in Ihrem neuen Buch vom „moralischen Wachstum“, das die Welt brauche. Was meinen Sie damit genau?
Markus Gabriel: Wir hätten keine Chance, moralischen Fortschritt zu erzielen, wenn wir das gegen China, Indien oder gar ganz Afrika tun. Das kann nicht funktionieren. Wichtig ist vor allem, dass man die Moral global denkt.
Wenn Sie von „wir“ sprechen, meinen Sie „uns“ Europäer?
Ja.
Wir betrachten uns doch aber in aller Bescheidenheit in politischer, technologischer, kultureller und gerade moralischer Hinsicht als überlegen.
Ach was. Wir sind überhaupt nicht mehr überlegen, nur in der Selbstwahrnehmung. Wir denken, Europa sei als Wohlstandsort überlegen, und deshalb müssen wir das Mittelmeer absichern, weil sonst alle herüberschwimmen.
Ist das nicht so?
Ich glaube nicht, dass die Leute in Schanghai, Mumbai, Tokio oder Zhengzhou uns als überlegen sehen.
Das interessiert uns aber nicht.
Und genau das ist unser Problem. Ich war unlängst bei einem KI-Kongress in Schanghai, und da war eine Milliardärin aus Hongkong, der wohl ein großer Teil der dortigen Filmindustrie gehört. Es gab einen Empfang in der Weinbar in der Dachetage des größten Gebäudes von Schanghai. Die Milliardärin zeigte mir den Blick, und ich schaue mit ihr runter, und ich denke nur, mein Gott, New York ist ja ein Kaff dagegen, und genau das wollte sie mir zeigen. Und dann sagte sie: „Bald machen eure Kinder meine Handys.“
Das ist nicht unrealistisch.
Nein, überhaupt nicht. Wenn ich jetzt nur als besorgter Bürger agieren würde, der Angst um seinen Wohlstand hat, dann müsste ich einfach nach China gehen. Jetzt nehmen die noch deutsche Philosophen oder französische Sonstetwas, man kriegt tolle Gehälter – aber lange wird das nicht mehr so sein. In fünf oder zehn Jahren werden sie sagen: Europäer, was soll das? Deshalb brauchen wir – Europäer, Chinesen, alle – gemeinsame moralische Werte, auch aus strategischen Gründen. Denn es bringt ja nichts, wenn wir die Ausbeutung nur umkehren. Wenn Ausbeutung schlecht ist, muss das künftig global gelten.
Und deshalb suchen Sie die gute Zukunft unserer Gesellschaft nicht in „europäischen Werten“?
Richtig. Wir beklagen hier, dass Europa nicht zu einer moralisch relevanten Einheit wird, es wird von europäischen Werten gefaselt, aber auf die Frage, was das ist, gibt es keine Antwort.
Markus Gabriel, Jahrgang 1980, ist Philosophieprofessor an der Uni Bonn. Lehrt auch in Paris und New York und ist Fellow der Hamburger Denkfabrik The New Institute. Bekannt wurde er 2013 mit dem Sachbuch-Bestseller „Warum es die Welt nicht gibt“.,
Zuletzt erschienen: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert“ (Ullstein 2020).
Nein?
Nein. Weil es europäische Werte nicht gibt. Weil es eine Illusion ist, wir hätten wenigstens „unsere“ Werte. Mehr noch: Es darf sie gar nicht geben.
Was ist mit Freiheit, Gleichheit, Menschenrechten, den Werten der europäischen Aufklärung?
Die Pointe dieser Werte ist ja gerade, dass sie universal gelten und nicht europäisch sind. Wenn es europäische Werte gäbe, dann wären sie ja falsch, weil nicht universalistisch. Das Bild einer gelungenen Zukunft kann nur scheitern, wenn wir das für uns „Europäer“ machen wollen. Werte sind entweder global, kosmopolitisch und universal oder lediglich Ausdruck der imaginären Zusammenrottung von Gruppen, die sich gegen andere richten, also etwa EU gegen USA und China.
Der Westen geht aber mehrheitlich nicht davon aus, dass er die anderen bisher ausbeutet. Und dass seine Leute demnächst von Chinesen ausgebeutet werden, ist gefühlt noch sehr fern?
Das sind Illusionen. Wir sind natürlich massiv in Ausbeutungssysteme verstrickt, und wir werden schon längst in vielen Hinsichten von Akteuren der Kommunistischen Partei Chinas an der Nase herumgeführt – aus dem Grund, weil wir unbedingt die riesigen chinesischen Märkte bespielen wollen. Vergessen wir nicht, dass China über Jahrtausende immer ein führendes und die Welt prägendes Land war. Die Schwäche Chinas war nur ein kurzes Zeitfenster der Weltgeschichte, das ist jetzt vorbei.
Wenn Sie von „moralischen Tatsachen“ sprechen, was meinen Sie dann?
Wir müssen verstehen, dass moralische Tatsachen etwas sind, das wir genauso erkennen können wie andere Tatsachen. Etwa: Berlin liegt nördlich von München. Das konsumistische Leben und der Raubbau an der Natur sind das Falsche. Das moralisch Gute ist nichts Ätherisches, sonst wäre ich auch nicht Realist, sondern Idealist. Ein Matriarchat ist nicht besser als ein Patriarchat.
Tatsache?
Hier ist ja das -archat schon das Problem.
Es gibt keinen Mangel in der neuen Mittelschicht an Moralausstoß. Der steigt proportional zum CO2.
Richtig. Er findet auch noch in alten Medien statt, aber der zentrale Ort der Entladung dieses Moralisierens sind die sozialen Medien. Moralisieren meine ich im Unterschied zur echten Moral. Dieser Moralausstoß ist genauso wirksam wie eine Videokonferenz.
Das müssen Sie erklären. Videokonferenzen gelten doch im Moment auch als Fortschritt.
Was ich bei Skype sehe, ist kein Mensch, das ist nicht meine Kollegin, sondern ein Modell, ein Bild meiner Kollegin. Und sie sieht ein Modell von mir. Mit diesem Modell kann ich mich halbwegs gut unterhalten, das ist hinreichend ähnlich und sagt in etwa, was meine Kollegin sagt, je nach Internetleitung und Verwackelung des Bildes. Aber es ist nicht meine Kollegin. Wenn ich mich auf Twitter für Identitätspolitik einsetze und dafür, dass jemand anderes nicht schon wieder rassistische Sachen sagt oder was ich dafür halte, oder wenn ich mich im Team Drosten gegen Team Streeck engagiere; wenn ich das auf Twitter tue, dann tue ich gar nichts. Das sieht nur so aus, das sind eingebildete Handlungen.
Das wird die Twitter-Engagierten hart treffen.
Der Kollege Drosten hat ja, um den Vorwurf auch noch zu äußern, auf einen Angriff der Bild-Zeitung durch einen Gegenangriff auf Twitter reagiert. Nicht seine beste Idee. Dann höre ich lieber seinen Podcast oder lese seine wissenschaftliche Expertise.
Was ist der Vorwurf?
Die Bild-Zeitung ist fatal, aber weit weniger fatal als Twitter. Wenn die Bild-Zeitung verschwindet, habe ich nichts dagegen, aber ich möchte noch lieber, dass Twitter verschwindet. Vor Twitter habe ich ernsthaft Angst. Vergessen wir nicht, dass es ohne Twitter womöglich nicht zur Trump-Präsidentschaft und ihren wahnsinnigen Auswüchsen gekommen wäre, so etwas hat die Bild bisher noch nicht geschafft.
Die Simulation der Handlung hat die Handlung ersetzt, der Moralausstoß ist wie ein kleiner Rülpser, nach dem man selbst sich besser fühlt, sich in der Wirklichkeit aber nichts geändert hat.
Das ist das Problem.
Aber was ist die Lösung?
Die Lösung ist: Erstmal Reduktion der Simulation von Wirklichkeit. Wobei die Simulation natürlich auch eine Wirklichkeit ist, aber nur eine zweiter Stufe. Jede Minute, die ich nicht in der Basiswirklichkeit etwas tue, sondern glaube, mich auf Twitter zu erregen, bin ich Algorithmen ausgesetzt und produziere etwas für amerikanische Unternehmen. Mal abgesehen davon, dass die Server ordentlich zur Erderwärmung beitragen. Wer sich online erregt, glaubt gerne, er täte das Gute, indem er sich über das Nichtgute beschwert, wobei man dann schon etwas Nichtgutes tut, indem man zur Erderwärmung beiträgt und außerdem vollständig transparent und beobachtbar für die eigentlichen Gegner des Guten ist. Dagegen setze ich auf eine neue Aufklärung, die in wirklichen Institutionen wirksam wird.
Also nicht bessere Menschen, sondern bessere Politik?
Was ich sage, muss institutionell wirksam werden, das ist die Reichweite meines Vorschlags, ich kann das ja nicht alleine. Philosophische Entwürfe und Theorien einer besseren Zukunft müssen heute in multidisziplinären Teams zu Ende gedacht und auf die Straße, das heißt, in die demokratischen Institutionen, Thinktanks und so weiter gebracht werden. Wir müssen über die verschiedenen Teilsysteme der Gesellschaft hinweg kooperieren, auch hier universal und transversal denken. Progressives Denken und Handeln gehört in die Mitte der Gesellschaft, es darf nicht in der Opposition bleiben.
Reden bringt auch nichts?
Die Frage ist, wie und mit wem. Stichwort systemischer Rassismus und Polizeigewalt: Wir müssen genauso mit den Polizisten reden wie mit den anderen. Die Polizei ist weder unser Freund noch unser Feind, sondern sie rekrutiert sich aus unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern, das heißt ja: Wir sind in einer Demokratie. Das sind genauso Wählerinnen und Wähler, das sind einfach Leute, die allerdings unter bestimmten Bedingungen im Dienst schlagen dürfen. Also Leute, mit denen ich taktisch anders umgehe, wenn sie im Dienst sind, als mit dem Bierverkäufer im Späti. Jetzt haben wir moralische Entladung, wir stellen fest: Polizei betreibt auch in Deutschland manchmal Racial Profiling. Oh, wirklich? Das hätte ich ja nie gedacht. Aber der Innenminister versichert uns: Das kann nicht so schlimm sein, das war ja illegal. Bizarre Debattenlage.
Ergo?
Wie wäre es, wenn wir das ganz anders betrachten und uns fragen: Wer sind denn diese Polizisten? Warum haben wir nicht ein Forum, statt dieser Studie, die man jetzt immer will? Eine Studie ist meistens so wirksam wie Twitter, nämlich gar nicht. Wir sollten Foren haben, in denen progressive Polizisten mit hohem Verantwortungsgefühl – und davon gibt es viele – mit negativ diskriminierten Menschen sprechen, ihre Erfahrungen kennenlernen und dann gemeinsame Optionen entwickeln, die man dann etwa den Innenministern vorstellt, also demokratisch, bottom up.
Brauchen wir gar keine Studien und quantitative Forschung mehr, sondern nur Gesprächskreise?
Nein, wir wissen, dass irgendwer geschlagen wird, und auch, dass Racial Profiling vorkommt. Das reicht doch, um was zu ändern. Ich will ein Forum, auf dem etwa ein Philosoph mit einem Soziologen vor und mit 700 jungen, fitten Polizisten diskutiert: Wie seht ihr das? Das muss disziplinarrechtlich sauber sein, gemischt, die können frei sprechen, es bleibt hinter verschlossenen Türen.
Was soll bei einem Gesprächskreis herauskommen?
Ich weiß doch nicht, in welchen Situationen Polizisten meinen, sie dürften physische Gewalt ausüben, das müssen die erläutern. Vielleicht ist es manchmal rechtsradikales Denken, vielleicht ist es schlechte Bezahlung, vielleicht etwas anderes, ich weiß es nicht. Eine Studie über Rassismus sagt mir nur, was ich eh weiß, dass es Rassismus gibt. Dazu brauche ich keine Studie.
Sie wollen zur Bewältigung der Krisen eine „Politik der radikalen Mitte“, haben aber gleich gesagt, das sei eine ironische Formulierung. Was ist da Ihr Punkt?
Der Moderator Gert Scobel hat mich darauf hingewiesen, dass es mal aus der Union heraus eine Komikerpartei namens Radikale Mitte gab und Gregor Dotzauer hat mir in der Zeit vorgeworfen, ich würde eine Politik der radikalen Mitte betreiben und aus diesem Vorwurf, der Komik und der Spannung heraus versuche ich, etwas Ernsthaftes zu machen: Wenn wir wirksam werden wollen, darf das Progressive nicht mit dem Gedanken verbunden sein, es sei randständig, sonst kann es nicht wirken. Radikal progressive Zukunftsentwürfe gehören in die Mitte, ins Parlament, in die Institutionen, die große Öffentlichkeit. Ein demokratischer Rechtsstaat ist nun mal so gebaut, dass der Hauptstrom durch Zurufe vom Rand, durch Aktivismus, Proteste und so weiter hin und wieder gelenkt wird und dann sagt: Na gut, dann nehmen wir das auf. Aber der Hauptstrom agiert in der Regel nicht progressiv. Warum eigentlich? Und warum akzeptieren wir das?
Es ist aus meiner Sicht ein großer Defekt der 68ff.-Kultur, sich in einer bizarren Schizophrenie als progressiv sprechendes Außen abzugrenzen, statt sich als realer Motor zu verstehen.
Bei den Rechten ist das noch ausgeprägter und schizophrener, wenn Frau Weidel in einer der großen Talkshows sagt: Wir werden nicht gehört. Doch, du wirst eben gehört, weil du sagst, dass du nicht gehört wirst. Du wirst sogar viel zu viel gehört. Mehr gehört kannst du nicht werden. Es ist pathologisch. Und im linken, sich als progressiv verstehenden Spektrum hast du auch den Gedanken, man rufe vom Rand. Es gibt aber keinen Rand, faktisch. Es gibt eine Randwahrnehmung, und es gibt eine genuine sozioökonomische Erklärung, die etwas zu tun hat mit der Randwahrnehmung, aber es sollte aus der Soziologie klar sein, dass das nur eine Metapher ist. Die progressiven Impulse, die von dem Ort kommen, der sich als Rand erlebt, dürfen eben nicht am Rand bleiben, denn genau das ist das Problem.
Gilt das auch für Minderheiten?
Gerade für sie. Wenn man glaubt, Afrodeutsche seien am Rand, dann ist schon alles falsch gelaufen. Sie sind einfach nur Deutsche, die leider zu häufig inakzeptabel schlecht behandelt werden. Jetzt hören wir denen mal zu, denn die sind ja am Rand. Wir laden immer nur die „weißen“, 50-jährigen Professoren, Politiker und so weiter zu den politischen Talkshows ein, und jetzt geht es um Rassismus und dann heißt es: Habt ihr einen Schwarzen? Jaja, wir haben eine gute Soziologin, und die darf dann dabeisitzen, zum Glück auch noch eine Frau. Viel interessanter wäre es, wenn die da säßen, die man des Rassismus verdächtigt, und über Rassismus reden. Warum nicht eine Sendung über Corona mit lauter Menschen, die man normalerweise zu Rassismus einlädt und umgekehrt, um die teils unsinnigen Stereotype zu sprengen.
Das wollen wir lieber nicht?
Wir sollten dringend unsere Vorstellungen von angeblicher Normalität ändern. Wir leben längst in einer komplexen Einwanderungsgesellschaft, und das ist eine Chance, also müssen wir lernen, Identitäten und Stereotype zu sprengen. Wir sind erst am Ziel, wenn man beim Thema „Rassismus“ nicht an Menschen mit dunkel pigmentierter Haut oder so etwas denkt. Das wäre der erste Schritt – Differenzpolitik nenne ich das. Dass wir Identitätsdenken überwinden. Die wirklich wichtigen Fragen kriegen dann vielleicht tatsächlich sozioökonomisch gerechte Selektionsfilter. Wann wir in Coronazeiten die Geschäfte aufmachen, zum Beispiel, war nicht nur wichtig für Lobbyverbände der Industrie, sondern vor allem für Spätis und Dönerverkäufer. Also müssen die in Talkshows. Genauso die Fleischarbeiter, es wurde immer nur über sie geredet, aber wo waren die denn in den Sendungen? Sie wurden nur als Opfer gefilmt oder als Randalierer hinter Bauzäunen, aber man spricht nicht mit ihnen, das geht nicht.
Sie sagen auch, dass eine Deutsche eine Deutsche genannt werden sollte und gut. Keine Afrodeutsche oder Deutsche türkischer Herkunft. Was ist damit gewonnen?
Das Ziel ist, einfach den Begriff Leute für alle durchzusetzen. Mensch ist vielleicht schon wieder zu pathetisch. Leuten passiert es manchmal, dass andere Leute, die wir Polizisten nennen, sie schlagen, obwohl sie nichts gemacht haben. Das ist die Zielvorstellung: Wenn eben niemand aus Versehen oder aus Fehlverhalten geschlagen wird, weil er irgendwie aussieht.
Leute werden von Leuten geschlagen?
Ja, dann wird man sagen: Das kann ja wohl nicht sein. Trump sagt ja manchmal das Richtige aus falschen Gründen. Wenn wir sagen: Black lives matter, sagt er: All lives matter. Er meint es leider anders, aber er sagt das Richtige. Wenn er sagt, es werden auch „Weiße“ geschlagen und auch erschossen, dann stimmt das ja auch und das geht auch nicht.
Dann wird jemand sofort autoritär verfügen, dass es a priori keinen Rassismus gegen Weiße geben könne.
Gibt’s aber. Der rassische Antisemitismus der Nazis war sicher Rassismus, aber er richtete sich gegen Juden überhaupt nicht deswegen, weil sie etwa „schwarz“ wären oder so etwas. Das ist das einfachste und schrecklichste Gegenbeispiel gegen den Nonsens, Rassismus gehe gegen „schwarze“ Menschen vor. Ich kann auch aus meinem eigenen Leben aus der Opferperspektive erzählen. Sieben Jahre bin ich von einigen Hindus rassistisch behandelt worden, weil ich versucht habe, eine Hindu-Tochter aus einer sehr hohen Kaste zu heiraten. Sie wurde geschlagen, sexuell misshandelt, kurz entführt, ich wurde traumatisiert, also ich kann mein Lied davon singen, es gibt sehr wohl Rassismus gegen „Weiße“, etwa in Indien, wo man als „weißer“ Europäer gar nicht beliebt ist. Das indische Kastensystem ist extrem rassistisch, Hautfarbe spielt dort eine wesentliche Rolle. Es ist eine aberwitzige Vorstellung, Rassismus sei etwas, was Weiße an Schwarzen verüben.
Alles passierte, weil Sie den Leuten dieser Kaste als minderwertig gelten?
Genau. Als „weißer“ Europäer ist man im indischen Kastensystem rassisch minderwertig, das ganze Kastensystem ist furchtbar rassistisch. Ich bin da nicht mal drin, sondern etwas, das es gar nicht geben sollte in der Perspektive der zweiten Kriegerkaste dieser richtig wohlhabenden Inder, mit denen ich einst zu tun hatte. Man wird übrigens auch hunderte Millionen von Han-Chinesen identifizieren können …
… mit 1,3 Milliarden Menschen laut Wikipedia „die größe Volksgruppe der Welt“ …
… von denen sehr viele sich rassisch den „Weißen“ überlegen fühlen. Warum ist also unser deutscher Fall so besonders? Und vielleicht ist diese Weiß-Schwarz-Spaltung in Deutschland gar nicht das zentrale Problem wie in den USA. Viele meiner, „asiatisch aussehenden“ – was auch immer das in Wirklichkeit sein mag – Freunde haben zu Beginn der Coronapandemie über Rassismus geklagt, zwei chinesische Doktoranden sind zurück nach China gegangen, nachdem sie mehrfach auf der Straße bespuckt wurden, weil sie das Virus importiert hätten. Es gibt also fast jede erdenkliche Form von Rassismus. Das Problem am Rassismus ist der Rassismus und nicht die Färbung der Pole. Ja, es gibt eine Kolonialgeschichte, in der sogenannte Weiße sogenannten Schwarzen unvorstellbares Leid zugefügt haben, aber moralisch sehe ich da keinen Unterschied, ob Rassismus sich gegen einen alten, weißen Mann oder eine junge, schwarze Frau richtet, beides ist gleich verwerflich und aus denselben Gründen.
Das Konzept der Rasse ist wissenschaftlich überholt, gesellschaftlich hält es sich hartnäckig. Es aufzugeben ist ein wichtiger moralischer Fortschritt?
Genau. Es gibt genau genommen keine Rassen, leider aber gibt es sehr wohl Rassismus. Ich habe ein Gedankenexperiment angestellt, das ich Ohrania nenne. Stellen Sie sich vor, sie kommen in ein fremdes Land namens „Ohrania“ und stellen fest, dass bestimmte Menschen sehr schlechte Tätigkeiten ausüben müssen für andere. Das entscheidet sich an der Länge ihrer Ohrläppchen. Die mit den kurzen Ohrläppchen haben ganz viele Vorteile, stellen immer die Regierung und so weiter und am Anfang sieht man das gar nicht und holt die Ethnologen und erforscht die Ohrania, bis man das mit den Ohrläppchen feststellt.
Und?
Bei den „Rassen“ haben wir immer das Gefühl, die sehen halt anders aus, und wir müssen lernen, die gleich zu behandeln, obwohl sie anders aussehen. Und damit machen wir denselben Fehler wie die Leute in Ohrania. Warum glauben wir anhand unserer übrigens verzerrten Wahrnehmung von Hautfarbe, Menschen klassifizieren zu müssen? Ein sehr braungebrannter Mensch aus Schleswig-Holstein kann sehr viel dunkler sein als ein Albino aus Uganda.
In der Rassenlogik ist der eine dennoch weiß und der andere schwarz.
Genau, der Albino ist trotzdem schwarz, und das ist nicht mal mehr eine Wahrnehmung, sondern einfach eine Erfindung, etwas Unsichtbares, das man aber in Rechnung stellen muss. Die Zielvorstellung ist Farbenblindheit, nicht Identitätssetzung. Ziel ist, dass man anders sieht. Wie meine Tochter.
Was sieht die so?
Ich war im November 2019 mit meiner kleinen Tochter in einem Museum in New York, da war ein Video eines – wie man denken würde – schwarzen Gitarristen. „Schwärzer“ hätte man nicht sein können. Und sie sagte: Guck mal, da ist ja der Onkel Tobs. Das ist mein Bruder, der in etwa so aussieht wie ich, nur größer und jünger. Als jemand, der mit dem Rassismusdiskurs aufgewachsen ist, kommt einem das merkwürdig vor und man denkt: Wie kommt die Fünfjährige darauf, dass ausgerechnet der aussieht wie ihr Onkel?
Wie kommt sie drauf?
Sie hat das anders gesehen, sie fand, der Gitarrist sehe aus wie ihr Onkel, weil der auch Gitarre spielt, einen ähnlichen Bart und eine Brille hat, sich ähnlich kleidet und sogar ein bisschen ähnlich lächelte. Sieht man von der Hautfarbe ab, so sieht der Gitarrist meinem Bruder wirklich zum Verwechseln ähnlich. Also, wenn man mal Jesus sinngemäß zitieren darf: Werdet wie die Kinder. Rassismus darf keine Möglichkeit für uns sein.
Was meinen Sie damit?
Man kennt das doch, man lächelt als progressiver Mensch den schwarz aussehenden Menschen in der S-Bahn an – aber warum? Um ihm das Gefühl zu geben, er sei auch willkommen. Ich habe mich 2015 sehr geärgert über die Willkommenskultur. Warum? Da kommen einfach Leute, die Gott sei Dank Rechte haben, sogenannte Asylrechte, und jetzt applaudiert man denen und heißt sie willkommen. Warum? Das sind einfach Leute, die Rechte haben, und dazu gehört auch das Recht, ein Arschloch zu sein, man muss sie weder mögen noch willkommen heißen, sondern ihnen ihre Rechte und unsere Unterstützung geben – einfach nur, weil sie auch Leute sind wie du und ich, nur aus Syrien oder Pakistan.
Könnte auch ein kultureller Akt nachholenden Widerstands von Leuten mit deutschem Pass sein, die eigene Menschlichkeit besonders betonen zu wollen.
Klar. Aber als ich die applaudierenden Menschen in München sah, dachte ich: Wenn ich in dem Zug säße, hätte ich jetzt Angst. Ich wäre verängstigt, weil man auf etwas hinweist, was gar nicht anders sein darf. Es war mir klar, dass es umschlagen wird. Mir applaudiert man nicht, wenn ich in München ankomme, und das ist auch gut so.
Man sagt damit: Ihr seid fremd, aber trotzdem willkommen?
Dagegen setze ich Farbenblindheit. Ich versuche eine Zielvorstellung zu formulieren: Wie sähe es denn aus, wenn ich nicht mehr die geringste Versuchung verspürte, Menschen, die ich als fremd wahrnehme, die es aber gar nicht sind, anders zu behandeln? Und anders kann auch sehr nett sein.
Ein Beispiel für Farbenblindheit?
Wenn man sich, zum Beispiel, richtig ärgern würde, wie schwäbisch Cem Özdemir ist, und ausriefe: Ich kann diesen Schwaben nicht ertragen. Wenn man das genauso denken würde wie bei anderen Schwaben, statt da noch diesen Filter dazwischenzustellen, er sei „türkischstämmig“. Nein. Er ist einfach ein Schwabe.
Sind Schwaben demnach keine Leute?
Sie haben recht, wir müssen auch die Schwaben-Wahrnehmung überwinden, aber trotzdem ist mein Beispiel ein Zeichen, dass ein moralischer Fortschritt stattgefunden hat. Außerdem ist mein allerbester Freund Schwabe. Und Hegelianer. Da kommt alles zusammen.
Hegel haben Sie in einem Interview einmal beleidigt als „irgend so einen schwerfälligen Schwaben“.
Sie haben mich erwischt. Es sollte flapsig-lustig sein, aber da habe ich meine eigenen Standards unterboten. Das ziehe ich zurück, das war Schwabismus. Und Schwabismus ist auch verwerflich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland