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Personalmangel an SchulenKeine Zeit für Förderung

Der Mangel an Er­zie­he­r*in­nen an Berlins Schulen ist höher als der an Lehrer*innen. Mit fatalen Folgen. Der Senat rechnet sich die Zahlen schön.

Aufpassen, beobachten und gucken, dass nichts passiert – mehr ist im Ganztag oftmals nicht drin Foto: Arne Dedert/picture alliance

Berlin taz | Jochen Hoffert ermahnt mehrmals zur Ruhe. „Liebe 1b, ihr seid mir gerade viel zu laut“, sagt er zu den 16 Erstklässler*innen, die gerade ihre Schulranzen und Jacken im Regal verstaut haben. Hoffert hakt die Anwesenheitsliste ab, danach entscheiden sich die meisten Kinder, rauszugehen: in den Hof mit Klettergerüsten, Schaukeln, Sandkiste und Fahrzeugen.

„Man merkt, dass bei ihnen die Luft am Nachmittag meist raus ist“, sagt Hoffert. „Sie haben am Vormittag ja schon mehrere Stunden gesessen.“ Hoffert ist Erzieher an der Lisa-Tetzner-Schule im Süden von Neukölln. Die Schule hat einen offenen Ganztag. Meist bleibt, so wie an diesem Tag, ein Großteil der 28 Kinder aus seiner Klasse in der Nachmittagsbetreuung.

Und eigentlich wäre das auch die Zeit für individuelle Förderung der Kinder, für „ergänzende Förderung und Betreuung“, wie es offiziell heißt. „Aber das ist schwierig, weil wir zu wenige Erzieher sind“, sagt Hoffert.

Knapp 90 Kinder sind an diesem Tag in der Nachmittagsbetreuung, begleitet von vier Er­zie­he­r*in­nen und einem Azubi. Drei Kol­le­g*in­nen würden gerade länger ausfallen. „Aufpassen, beobachten, ansprechbar sein. Gucken, das nichts passiert“, fasst Hoffert zusammen, was er und seine Kol­le­g*in­nen leisten können.

Teilweise müssen Schü­le­r*in­nen nach Hause geschickt werden

„Viel mehr ist an einem Tag wie heute nicht drin. Und solche Tage sind eher die Regel.“ Auch die Facherzieherin sei mit Aufsicht beschäftigt – anstatt einzelne Kinder zu sprachlich zu fördern oder in ihrem Lern- und Sozialverhalten zu unterstützen.

Personalschlüssel wird regelmäßig überschritten

Vorgesehen ist im Schulhort ein Personalschlüssel von ei­ne*r Er­zie­he­r*in auf 22 Schüler*innen. In der Praxis werde dies regelmäßig überschritten, sagt Franziska Brychcy, bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. Gründe dafür seien etwa unbesetzte Stellen, Erkrankungen oder Fortbildungen.

Laut einer Anfrage der Linksfraktion waren Anfang des Jahres allein bei den Er­zie­he­r*in­nen im Ganztag mehr als 365 Vollzeitstellen unbesetzt. Zum Februar hat der Senat nach eigenen Angaben zwar rund 85 Er­zie­he­r*in­nen neu einstellen können – doch in der Regel arbeiten die nicht alle in Vollzeit.

„Wir müssen die Arbeitsbedingungen der Er­zie­he­r*in­nen an den Berliner Schulen nachhaltig verbessern“, fordert Brychcy. Der Personalmangel stelle eine unzumutbare Dauerbelastung dar. Und die Kinder bekämen nicht die Unterstützung, die sie dringend bräuchten.

„Mit einer Personalausstattung von nur 92,5 Prozent bei den im öffentlichen Dienst beschäftigten Er­zie­he­r*in­nen ist der Personalmangel im Ganztag sogar noch schlimmer als bei den Lehrkräften“, sagt sie – bei den Leh­re­r*in­nen­stel­len sind 97,3 Prozent besetzt.

Senatsverwaltung für Bildung sieht kein Problem

Die Senatsverwaltung für Bildung schätzt den Mangel an Er­zie­he­r*in­nen weniger drastisch ein. Dort kommt man, „gesamtstädtisch betrachtet und modellhaft gerechnet“, nahezu exakt zu einem Personalschlüssel von 1:15, heißt es in der Antwort auf die Kleine Anfrage.

Für Brychcy ist das Schönfärberei: Der Senat rechne Stunden, die ausdrücklich für die Sprachförderung oder die Förderung von Kindern mit Behinderung vorgesehen sind, einfach auf ganze Gruppen um. „Eine Erzieherin kann aber nicht ein Kind bei der Sprachförderung unterstützen und gleichzeitig noch 20 andere Kinder betreuen“, kritisiert sie. Damit verweigere der Senat den Kindern ihren Anspruch auf individuelle Förderung sowie gute Bildungschancen, sagt die Linke-Politikerin.

Nicht nur an der Lisa-Tetzner-Schule berichten Er­zie­he­r*in­nen von hohen – oft dauerhaften – Krankenständen. Regelmäßig fehle an seiner Schule ein Drittel des Teams, berichtet ein Erzieher von einer Schule in Kreuzberg, der namentlich nicht genannt werden möchte.

In der Nachmittagsbetreuung seien rund 300 Schüler*innen. Das Verhältnis von 1:22 gebe es nur auf dem Papier. Meist seien es deutlich mehr als 30 Kinder pro Erzieher*in. Teils hätten sie zu zweit auch 100 Schüler*innen. „Da kommen wir an einen Punkt, wo wir Kinder nach Hause schicken müssen“, sagt er.

Das sei in vielerlei Hinsicht problematisch: Für Kinder in dem Alter sei es wichtig, sich ausprobieren zu können und Hobbys oder Interessen zu entwickeln. Auch sollen die Er­zie­he­r*in­nen auf dem Unterricht aufbauen. Und nicht zuletzt haben viele Eltern einen Vertrag über die Nachmittagsbetreuung an den Schulen geschlossen und zahlen dafür dann auch.

Gewerkschaft fordert bessere Arbeitsbedingungen

Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert schon länger einen Personalschlüssel von 1:15. „Das Abgeordnetenhaus könnte das beschließen, es ist absurd, dass der Senat so abblockt und das Problem kleinredet“, sagt ein GEW-Sprecher der taz. Außerdem sollten Er­zie­he­r*in­nen mindestens neun Stunden Zeit für die Vor- und Nachbereitung bekommen.

Auch die Linke fordert vom Senat einen Plan, wie der Betreuungsschlüssel im Ganztag stufenweise verbessert werden kann, „um das pädagogische Fachpersonal zu halten und weitere Er­zie­he­r*in­nen für die Arbeit im Ganztag zu gewinnen“.

Seitens der Senatsverwaltung für Bildung heißt es, grundsätzlich bestehe ein „bundesweiter Fachkräftemangel, dem wir mit verschiedenen, breit gefächerten Maßnahmen begegnen“ – etwa der Bildungsmesse „Berlin Tag“.

„Prinzipiell stärken wir auch die Fachkräfte, die wir bereits haben, und uns ist an einer weitere Attraktivitätssteigerung des Berufsfeldes gelegen, hier geht es auch um eine adäquate Bezahlung und Teilzeitmöglichkeiten“, so ein Sprecher. „Wir wollen zudem die Aus- und Weiterbildung verbessern und durch entsprechende Berufspraktika früher ansetzen.“

Viele verlassen ihren Beruf

Für den Kreuzberger Erzieher liegen die Probleme woanders. Die Horte seien oft schlecht ausgestattet. Er selbst habe mit eigenem Geld für mehr als 1.000 Euro modernere Bücher und Spiele angeschafft – denn er habe nur ein Jahresbudget von 100 Euro für Materialien. Und damit sei er nicht allein.

Der Senat sei als Arbeitgeber „unfassbar starr“, findet er. „Dort nimmt man die massiven Beschwerden der Kol­le­g*in­nen über ihre Arbeitsbedingungen nicht ernst, sodass ihnen letztlich nichts anderes bleibt, als den Beruf zu verlassen.“ Andere Erzieher beklagen, dass es kaum Aufstiegsmöglichkeiten in dem Beruf gibt und das Gehalt zu gering für Sabbatjahre sei.

Hoffert betont, er mache seinen Beruf gern. Doch durch den Mangel verändere sich die tägliche Arbeit. „Wir kommen nicht in die schöne pädagogische Arbeit“, sagt er. „Bei uns heißt es immer, wir machen das ja aus Berufung“, so der Erzieher. „Und darauf ruht sich die Politik aus.“

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