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Perfektion und FeminismusPlädoyer für plumpes Denken

Ohne Team und Coach gelang der Niederösterreicherin Kiesenhofer der Olympiasieg beim Radrennen. Bald unterrichtet sie wieder Differentialgleichungen.

Anna Kiesenhofer aus Österreich feiert den Gewinn von Gold Foto: Michael Steele/Reuters

E s sind ja gerade Olympische Sommerspiele, und ich muss gestehen, dass mich das nicht sonderlich elektrisiert, was aber an Sportarten wie Tauziehen, Pistolenschießen, Dressurreiten oder Golf liegt. So erfuhr ich von der Existenz Anna Kiesenhofers mit ihrem fulminanten Ritt zum Olympiagold im Fahrradstraßenrennen erst, nachdem es schon – nun ja, die Metapher hinkt etwas – „gelaufen“ war.

Kiesenhofer ist 30 Jahre alt, stammt aus Niederösterreich und ist schon eine extrem bemerkenswerte Person. Wahrscheinlich ist sie auch ein wenig ein Nerd. Es sind ja gerade Olympische Sommerspiele, und ich muss gestehen, dass mich das nicht sonderlich elektrisiert, was aber an Sportarten wie Tauziehen, Pistolenschießen, Dressurreiten oder Golf liegt.

Kiesenhofer fährt in keinem Team, hat keinen Coach, ist im allerengsten Sinne eine „Amateursportlerin“. Sie fährt noch nicht einmal bei internationalen Rennen mit, weil sie sich das ohne Sponsoren wohl auch gar nicht so leicht leisten könnte. Daher hatten sie ihre Konkurrentinnen auch nicht auf dem Zettel. Sie kannten sie schlichtweg nicht.

Alleingang einer Gewinnerin

Kiesenhofer fuhr bei dem Rennen zunächst im Führungspulk, setzte sich dann aber sehr schnell ab, eilte allein davon und fuhr den Sieg heim. Das hatte sie wahrscheinlich alles penibel berechnet, denn in ihrem anderen Leben ist sie Spitzenmathematikerin, beschäftigt sich mit undurchschaubaren Differentialgleichungen, bei denen wir Durchschnittsleute wohl nicht einmal die Fragestellung verstehen würden. Sie hat an der Technischen Universität in Wien studiert, in Cambridge und Barcelona Master und PhD gesammelt.

Gegenwärtig forscht und lehrt sie in Lausanne. Sie gibt auf Englisch fantastisch gute und sympathische Interviews. Die Frage, wie sie ihren Triumph jetzt feiern werde, beantwortet sie lachend mit dem Hinweis, dass sie sich jetzt in Niederösterreich in ihrem ehemaligen Kinderzimmer intensiv auf die Vorlesungen des Herbstes vorbereiten müsse, da sie im Vorfeld zu Olympia keine Zeit dafür hatte. Eine Frau, die alles schaffte – und das komplett auf sich allein gestellt.

Es ist natürlich kein Wunder, dass dieser Sieg sogleich als Metapher für den Triumph von Frauen benützt wird, die es immer noch sehr viel schwerer haben als Männer. Wie Olympia junge Frauen inspirieren kann: „Setzt euch vom Hauptfeld ab“, „reißt aus“, verlasst euch auf niemanden, kommentierte anderntags der konservative Wiener Kurier.

Meine erste, spontane Reaktion war: „Herrlicher Titel“. Aber dann kam ich ins Grübeln. Dass wir uns alle – nicht nur Frauen – vom Hauptfeld absetzen sollen, wir uns niemals auf andere verlassen sollen, als Einzelne zu Höchstleistungen streben, auf keine Einbettungen in Kollektiv und Solidarität bauen sollen – das wird uns doch allen seit dreißig Jahren eingebläut.

Es ist dagegen auch nicht grundsätzlich etwas einzuwenden, wenn Menschen etwas Besonderes sein wollen, denn gerade dieser innere Antrieb führt zu Höchstleistungen, nicht nur beim Sport, auch in der Kunst, Literatur, und im Geistesleben. Aber damit geht auch Druck einher, den man sich selbst macht, ein Getriebensein, dieser Stress, der sich in unsere Gesellschaften hineinfrisst, und diese existenzielle Alleinheit.

Komplex macht schlau

Braucht es wirklich auch noch zusätzliches Getrommle in Richtung „Höchstleistungsgesellschaft“, mag das auch für eine noch so gute Sache wie die Frauengleichstellung sein? Da geht es um Perfektion, darum, niemals mit sich zufrieden zu sein. Auch das ist eine gute Sache, denn Selbstzufriedenheit führt zu Stagnation. Die amerikanische Autorin und Intellektuelle Susan Sontag war – das kann man in ihren Tagebüchern nachlesen – auch nie mit sich zufrieden, da war sie schon eine der gefeiertesten Geistesgrößen ihrer Epoche:

„Mein Verstand ist nicht scharf genug, nicht wirklich herausragend. Und mein Charakter, meine Wahrnehmungsweise sind letztlich zu konventionell.“ Sie hielt sich für ziemlich unfähig. „Ich bin so brav, dass es wehtut.“ Was Perfektion sein könnte, auch darüber kann man lange grübeln. Sontag sagte einmal in einem Interview über ein Buch, sie sei sich nicht sicher, ob es irgendeinen Nutzen entfalte, „außer dass es die Dinge komplizierter macht, was in meinen Augen immer gut ist“.

Das ist eine interessante Auffassung, der ich sehr viel abgewinnen kann: Die Dinge sind komplex, und man wird schlauer, wenn man sie in ihrer Komplexität durchdenkt, von allen Seiten ansieht, aber damit wird die Welt natürlich komplizierter. Man muss sie dann auch wieder vereinfachen. Deswegen war George Orwell so ein Anhänger des „Plain Style“, des einfachen Stils, und Walter Benjamin war stets fasziniert vom „plumpen Denken“.

Die Hauptsache ist, plump denken lernen. Plumpes Denken, das ist das Denken der Großen“, hatte Bertolt Brecht ihn ermahnt, und Benjamin fand das sehr erstrebenswert. Nun war plumpes Denken bekanntlich keine Disziplin, in der Walter Benjamin besonders gut war. Aber nobody is perfect.

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Robert Misik
Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.
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7 Kommentare

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  • "Was - ohne das zu schmälern - zeigt - daß es dorten mit der Leistungsdichte - ganz genderneutral gesprochen - eher nicht so weit her ist."



    Männds jedse eher des:



    www.spektrum.de/le...rable-systeme/7294



    oder des "Nach zwei Jahren Rennpause wurde die 28-Jährige im Mai 2019 österreichische Staatsmeisterin im Einzelzeitfahren und im Juli auch im Straßenrennen.[4] Bei den Europameisterschaften belegte sie im Zeitfahren Platz fünf, bei den Weltmeisterschaften Platz 20. Am 22. August 2020 konnte sie ihren Erfolg des Vorjahres wiederholen und wurde erneut österreichische Staatsmeisterin im Einzelzeitfahren,[5] ebenso 2021."



    mit ausgeglichenen Leistungen?



    Die Gute ist im Übrigen 30, da hat sie wohl Leistungsvermögen und Erfahrung kobminiert mit nem guten Tag, bei der Männer-TourdeFrance sind übrigens 41,2 km in 7 min ned soo einfach aufzuholen; so ca. 10km pro min Abstand für das Feld verringern sind wohl da so die Größenordnung.



    (Die Zahlen des Rennens und die Erfolgszusammenfassung von Anna Kiesenhofer (Respekt!) aus wikipedia.)

    • @Hugo:

      Das walte Hugo - die humorvoll-ironische Arabeske mit “Obwohl Obwohl…“ hams wohl leider übersehen:



      => Es gibt noch anderes als Leistungssport im richtigen Leben.



      Get it? Fein.

      unterm—— 🚣‍♀️—-Schlagobers —-



      Hatte mit 20 vier DM auffem Buckel & mischte beiden Schnellsten mit - vor Abi



      => was ich meinte - 😎 -



      Aber schön - daß nicht nur Robert Misik die Dame zu würdigen weiß. Gell.

      • @Lowandorder:

        Böswillig gelesen ist Dein Kommentar eine Schmälerung der Leistungen von Anna Kiesenhofer.



        Ich wollt nur wissen, ob beide oder "nur" der sportliche Erfolg gemeint war ;).



        Robert Musiks Gedankenhüpfer von seiner eher mäßig vorhandener Leistungssportbegeisterung über die wohl eher strukturelle denn gewollte nichtvorhandene "team performance" seitens der Olympiasiegerin zur Kritik an der Besonderheitsstellung eines (weiblichen) Individuums mit Kronzeuginnentums einer ihr Licht ganz bescheiden/unbescheiden unter eine Scheffel stellenden Schriftstellerin in Kombination mit irgendwas frauendingensens hin zu Alten (seit Längerem verstorbenen) Weißen Männern mit ihrer perfekten Perfektionslosigkeit (oder so ähnlich) sind eigentlich schon abenteuerlich genug *lol*...

        • @Hugo:

          Das mit dem „böswillig gelesen“ haben die Modderatistas auch prima hingekriegt! Kann‘s immer noch nicht glauben - war mir längst entfallenn - beim Nachlesen dachte ich “ Booey - wie kann angahn? Nich to glöben - rein tonn katolsch warrn.



          & entre nous -



          Wie sollte einer wie icke - fin im Rudermekka Ratzeburg - solche Leistung schmälern wollen. Never ever.



          & btw solche Typen gibt’s immer wieder



          “Was heißt hier trainieren? Wenn der Schnee weg ist - kommt er aus den Bergen setzt sich ins Skiff - fährt alles in Grund & Boden & geht wieder 🐑🐑🐑 Züchten!“ Großes Bruderherz downunder no travelling coach über Dave Wottle.



          ps mit Vergnügen hab ich dem NZL Achter zugeschaut - cool die Tempobolzerei 🇩🇪 🏴󠁧󠁢󠁥󠁮󠁧󠁿 🇺🇸 Auspendeln - um dann bei 1000 m den Motor anzuwerfen - ohne Schlagzahlerhöhung!



          Bis auf nen Luftkasten wegziehen & sich mit ner Sekunde ins Ziel “retten“.



          Das ist die Handschrift von Hamish Bond - so mit Eric Murray - ungeschlagen im 2er o.



          & Däh



          Eher schlaksige Typen - was heißt:



          Excellente Techniker & Konditionscracks - (mal nachhorchen;))



          (Btw keine Fotos im Netz - nur Schland;(

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    • @Lowandorder:

      Hab ich. Ihr nicht •

  • Was für ein Gesülze.. ! Da ist jemand einfach sportlich fähig und mit ihrem Körper im Einklang. Dazu bescheiden. Zeigt einfach was möglich ist. Zur Freude für alle die hinschauen möchten. - So könnte Olympia sein, so wünsche ich es mir.