Parlamentswahl in Bulgarien: Aussitzen zahlt sich doch aus
Bojko Borrisow dürfte wieder das Rennen machen – trotz massiver Proteste im vergangenen Sommer. Dabei hatten viele den Premier schon abgeschrieben.
Doch offensichtlich scheint den Menschen die Lust aufs Experimentieren vergangen zu sein. An diesem Sonntag wird in Bulgarien ein neues Parlament gewählt. Jüngste Umfragen sehen die GERB mit rund 28 Prozent der Stimmen und 76 von 240 Sitzen in der Volksversammlung auf dem ersten Platz. Für Rang zwei mit knapp 20 Prozent werden die Sozialisten (BSP) gehandelt.
Dabei ist Borissows Bilanz alles andere als positiv. Bulgarien, das 2007 der EU beitrat, ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von 8.750 Euro pro Kopf der Bevölkerung (2020), was 48 Prozent des EU-Durchschnitts entspricht, nach wie vor das Armenhaus Europas.
Auch bei der Medienfreiheit ist der Staat mit rund sieben Millionen Einwohnern EU-weit Schlusslicht und firmiert auf der Rangliste der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ (ROG) auf Rang 111. Die Pressefreiheit in Bulgarien sei in einer Sackgasse und unabhängige Medien seien kurz davor, zu verschwinden, lautet die Einschätzung von Pavol Szalai, bei ROG zuständig für die EU und den Balkan. Denoch gab Bojko Borisossow am 16. März bei einer Pressekonferenz in Wien zu Protokoll, dass die Medienfreiheit in Bulgarien so umfassend wie in kaum einem anderen Staat sei – eine Aussage, die von einer gewissen Realitätsferne zeugte.
Drei Milliarden Euro
Absolut spitze in der EU ist das Land hingegen in Sachen Korruption und auf dem entsprechenden Index von Tranparency International an oberster Stelle gelistet.
Maßgeblich sei die Partei GERB mit dafür verantwortlich, dass sich die Mafia in den Institutionen der EU fest gesetzt habe, heißt es in einer Analyse des Internationalen Instituts für den Nahen Osten und Balkan-Studien (IFIMES). Dabei zahlt sich die EU-Mitgliedschaft Bulgariens im wahrsten Sinne aus. Jährlich erhält Sofia aus Brüssel drei Milliarden Euro.
Doch obwohl der EU die mafiösen Machenschaften bis in höchste bulgarische Regierungskreise hinlänglich bekannt sind, erfreut sich Borissow immer noch starken Rückhaltes aus den Reihen der Europäischen Volkspartei (EPP). Zudem wird der Mann aus Sofia von jeher von der CDU-nahen Konrad Adenauer-Stiftung gepampert. Auch Bundeskanzelerin Angela Merkel sagen Beobachter*innen nach, ihre schützende Hand über Borissow zu halten.
Doch der bereitet Brüssel auch noch in anderer Hinsicht Kopfzerbrechen. Vor einigen Monaten legte Bulgarien gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Republik Nord-Mazedonien sein Veto ein. Grund für die Blokade ist ein Streit um Geschichte und Identität. Erst müsste Skopje die bulgarischen Wurzeln seiner Nation und Sprache anerkennen, dann würden auch die Spannungen im Verhältnis zwischen den Nachbarn beigelegt werden können, sagte Bulgariens Außenministerin Ekaterina Zachariewa der Nachrichtenagentur Reuters zur Begründung für die Blockadehaltung.
Politisch abgeschrieben
Sie assistierte damit dem Chef der nationalistischen Partei VRMO Krasimir Karakachanow, die mit in der aktuellen Regierung sitzt und am Sonntag an der Vierprozenthürde scheitern könnte. Dieser „Anschlag“ auf Nordmazedonien sei es gewesen, der Borissow und Karakachanow wieder in das Spiel zurück gebracht habe, nachdem sie bereits politisch abgechrieben gewesen seien, heißt es dazu in der Analyse des IFIMES.
Abschrieben hatten Borissow auch bereits viele Bulgar*innen, als sie nicht zuletzt wegen Korruption und Vetternwirtschaft im vergangenen Sommer zu Zehntausenden wochenlang gegen die Regierung auf die Straße gegangen waren. Doch Bojko, wie er im Volksmund genannt wird, saß die Proteste und Rücktrittsforderungen aus. Er zog es unter anderem vor, sich mit Staatspräsident Rumen Radew so richtig anzulegen, der sich, sekundiert von der BSP, auf die Seite der Demonstrierenden geschlagen hatte. Die Dauerfehde zwischen den beiden dauert an.
Auch wenn der „Aufstand“ der Bulgar*innen nicht das gewünschte Ergebnis hatte – folgenlos blieb er trotzdem nicht. So entstanden im Dunstkreis der Protestbewegung mehrere Parteien. Zwei von ihnen könnten ins Parlament einziehen und die politische Landschaft durcheinander bringen.
Bei knapp 13 Prozent und somit auf dem dritten Platz sehen Umfragen die Gruppierung „Ima takyv narod“ (So ein Volk gibt es). Chef der Anti-Establishment-Partei ist Stanislaw („Slavi“) Trifonow – ein bekannter Folk-Pop Sänger und TV-Star, der sich bereits seit Dekaden an den Regierenden abarbeitet.
Populismus pur
Dabei setzt Trifonow auf Populismus pur. Entsprechend überschaubar ist sein Programm: Einführung eines Mehrheitswahlrechtes, Kürzungen bei der staatlichen Parteienfinanzierung, Reduzierung der Parlamentssitze von 240 auf 120 sowie die Einführung einer Direktwahl für bestimmte Posten, wie den des Generalstaatsanwalts. Während des Wahlkampfes verweigerte er sich Interviews genau so wie einer Teilnahme an Debatten mit seinen Kontrahent*innen.
Seine Botschaften unter das Volk bringt Trifonow vor allem über seinem eigenen Kabel-Kanal „7/8“. Dort wird unter anderem kräftig gegen coronabedingte Lockdown-Maßnahmen Stimmung gemacht und die Gefahr der Pandemie herunter gespielt. Dabei sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache. Derzeit beträgt die 7-Tage-Inzidenz bei Neuinfektionen 361, die Krankenhäuser sind am Anschlag.
Dennoch lockerte Sofia die erst am 22. März verhängten Einschränkungen am vergangenen Donnerstag erneut. Mit bislang knapp 400.000 Erstgeimpften verläuft die Immunisierung im Schneckentempo, weswegen die EU Sofia in dieser Woche im Rahmen einer Solidaritätsaktion 1,15 Millionen Impfdosen mehr zusagte, als nach dem üblichen Verteilungsschlüssel vorgesehen waren.
Ebenfalls gute Chancen den Sprung ins Parlament zu schaffen, darf sich die Bürgerplattform „Izpravi se Bulgaria – Mutri vyn!“ (Räume auf Bulgarien – Mafia raus) ausrechnen. Sie liegt derzeit bei 5,2 Prozent. Das Gesicht der Partei ist Maja Manalowa, langjährige Parlamentsabgeordnete (zunächst für die Sozialisten, dann parteilos) und von 2015 bis 2019 Ombudsfrau der Republik Bulgarien. 2019 kam sie bei der Wahl für das Amt des Sofioter Bürgermeistern immerhin in die zweite Runde.
Hinter den Kulissen
In ihrem Wahlprogramm heißt es: „Wir bringen unsere Bereitschaft zum Ausdruck, ein breites Bündnis gegen das 10-jährige Ein-Mann-Modell der Regierung von Bojko Borissov zu schließen, das von der „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (DPS) hinter den Kulissen unterstützt wird.“ Unter anderem werden höhere Einkommen für die Bürger*innen, eine stärkere Unterstützung von mittelständischen Unternehmen und Familienbetrieben sowie eine umfassende Justizreform nebst entsprechenden Verfassungsänderungen gefordert.
Besagte DPS vertritt die Interessen der türkischen Minderheit (rund neun Prozent der Bevölkerung) und ist dank einer stabilen Wählerschaft auf den Status der drittstärksten Fraktion im Parlament quasi daueraboniert. Derzeit liegt sie bei 12,7 Prozent Zustimmung. In der Vergangenheit sorgte die Partei mit Korruptionsaffären immer wieder für Schlagzeilen – zuletzt im vergangenen Sommer, als Aufnahmen von einer Villa, die dem langjährigen ehemaligen DPS-Vorsitzenden Achmed Dogan gehört, viral gingen.
Urheber des Videos war Ex-Justizminister Hristo Iwanow, einer der Vorsitzenden von „Da, Bulgaria“ (Ja, Bulgarien). Die Partei, die mit zwei anderen Gruppierungen als Bündnis „Demokratisches Bulgarien“ antritt, setzt zuvörderst auf den Kampf gegen Korruption und dürfte mit prognostizierten sechs Prozent sicher den Sprung ins Parlament schaffen.
Laut dem bulgarischen Medienexperten Georgi Lozanow wären die Proteste im vergangenen Sommer der richtige Zeitpunkt gewesen, um einen mächtigen politischen Akteur als Alternative zu BSP und GERB zu schaffen. Demokratisches Bulgarien hätte diese Partei sein sollen, sie übermittele Botschaften, wie Kampf gegen Korruption und gegen eine mit der Politik verbandelte Justiz. Doch diese Chance sei verpasst worden. Die Oppositionsparteien hätten sich zusammen raufen und GERB vor sich hertreiben müssen, doch das sei nicht geschehen, zitiert das bulgarische Nachrichtenprotal mediapool.bg Lozanow.
Die Nase vorn
Die fragmentierte Opposition ist unstrittig mit ein Grund dafür, warum Borissow allen Widrigkeiten zum Trotz die Nase vorn hat. Und der Ministerpräsident werde jede Möglichkeit nutzen, die Oppositionsparteien gegeneinander auszuspielen, sagt Daniel Smilow vom Sofioter Think Thank Zentrum für Liberale Strategien.
Aber selbst wenn Borissow als erster ins Ziel kommt, wird er an seinem Sieg wenig Freude haben. Denn die Regierungsbildung dürfte kein Spaziergang werden. Schon machen Szenarien von einer Expertenregierung oder Neuwahlen die Runde, sollte sich keine Koaltion zusammen basteln lassen. Doch so weit ist es noch nicht, schließlich müssen die Bulgar*innen erst einmal ihre Stimme abgeben. Der Ausgang der Wahl sei unvorhersagbar, sagt Smilow. „Am Sonntag kann alles passieren.“
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