Parlamentspause war illegal: Höchstrichterlich abgewatscht
Großbritanniens Oberstes Gericht gibt einer Klage gegen die Parlamentsaufhebung durch Boris Johnson recht. Mit einer ernüchternden Begründung.
Es regnete in Strömen in London, aber im Regen stand vor allem Boris Johnson, der gar nicht da war. Unter dem blauen Himmel von New York, wohin er zur UN-Generalversammlung gereist war, musste der britische Premierminister am Dienstag das Urteil des britischen Obersten Gerichts zur Kenntnis nehmen, das ihn in der Luft zerreißt.
Die von Johnson initiierte und per königlicher Verfügung vollzogene „prorogation“ des britischen Parlaments – also die Aufhebungsverfügung, wonach am 9. September die Sitzungsperiode des Parlaments endete und die nächste am 14. Oktober beginnt – ist nach einstimmiger Meinung der elf obersten Richter „rechtswidrig, null und nichtig“. Die Richter geben damit letztinstanzlich einer Klage gegen die „prorogation“ statt, die der High Court in London am 11. September abgewiesen hatte, und bestätigen ein gegensätzliches Urteil des schottischen Gegenstücks.
„Das Parlament ist nicht aufgehoben“, stellte die Vorsitzende Richterin Lady Hale in ihrer mündlichen Zusammenfassung klar. Rechtlich laufe die in der Nacht zum 10. September beendete Sitzungsperiode weiter. Die Sprecher der beiden Parlamentskammern, so das schriftliche Urteil, „können sofortige Schritte tun, um jeder Kammer zu ermöglichen, baldmöglichst zusammenzutreten.“
Umgehend verkündete John Bercow, Sprecher des Unterhauses, am Mittwoch um 11 Uhr 30 Ortszeit werde das Unterhaus wieder tagen. Die am 9. September beendete Sitzungsperiode wird fortgesetzt. Womit, ist nicht klar. Vorbereitet ist nichts. Die Mittwochs-Fragestunde an den Premierminister entfällt, mangels Vorbereitung und mangels Premierminister.
Die Rückkehr der Parlamentarier ist also eher von symbolischer als von praktischer Bedeutung. Sie ist für Boris Johnson deswegen eine Ohrfeige, weil er nun höchstrichterlich in die Schranken gewiesen worden ist, die er bis dahin nicht beachtet hatte – die im Urteil ausgeführte Befugnis der Justiz, „die rechtlichen Grenzen der jeder Regierungsgewalt zugewiesenen Macht zu bestimmen und zu entscheiden, ob eine Machtausübung diese Grenzen überschritten hat.“
Dieser Verantwortung, so das Urteil weiter, „können sich die Richter nicht aus dem bloßen Grund entziehen, dass die zu behandelnde Frage politisch ist“. Damit weisen die Richter die Auffassung der Regierung zurück, wonach die „prorogation“ des Parlaments eine politische Entscheidung war und somit nicht justiziabel.
Dass die Regierung frei über die Sitzungsperioden des Parlaments verfügt, stellen die obersten Richter nicht infrage. Dies gehöre zur Prärogative der Exekutive. Doch sei jede Ausübung einer Prärogative auf ihre Folgen zu überprüfen. „Die Souveränität des Parlaments als Grundprinzip unserer Verfassung wäre untergraben, wenn die Exekutive durch Einsatz ihrer Prärogative das Parlament nach Gutdünken daran hindern könnte, seine legislative Macht auszuüben.“
Schlechter Rat für die Queen
Die Aufhebung des Parlaments, so die Schlüsselpassage des Urteils, sei „rechtswidrig, wenn sie zur Wirkung hat, ohne vernünftige Begründung die Fähigkeit des Parlaments zu erschweren oder zu verhindern, seine verfassungsgemäße Funktion als Legislative und als für die Kontrolle der Exekutive zuständige Instanz wahrzunehmen“.
War dies hier gegeben? „Natürlich.“ Es könne zwar für so etwas Gründe geben, aber in diesem Fall, so der lakonische Abschluss der rechtlichen Würdigung im Urteil, „ist es uns nicht möglich, aus den uns vorgelegten Beweisen zu schließen, dass es irgendeinen Grund gab – geschweige denn einen guten Grund –, Ihrer Majestät zu raten, das Parlament für fünf Wochen aufzuheben. […] Folglich war die Entscheidung rechtswidrig.“
Die höchstrichterliche Feststellung, Boris Johnson habe ohne nachvollziehbaren Grund gehandelt, ist für seine Integrität womöglich noch schlimmer als die Auffassung der Kläger, Johnson habe die Queen absichtlich hinters Licht geführt. Dieser Ansicht schließt sich das Oberste Gericht mangels Kenntnis der Beratungen zwischen Johnson und der Queen nicht an und hält diese Frage auch für unmaßgeblich: Wenn die „prorogation“ rechtswidrig war, ist die Motivation dazu egal; es zählen allein die Folgen.
Nun hagelt es Rücktrittsforderungen. Labour-Chef Jeremy Corbyn war der erste. Labour schließt sich aber wieder nicht den Forderungen anderer Oppositionsparteien nach einem Misstrauensantrag gegen Boris Johnson an.
„Ich bin überhaupt nicht einverstanden mit dem Urteil“, sagte schließlich Johnson in New York. Er respektiere es. Aber „was das Land sehen will, ist, dass die Parlamentarier im nationalen Interesse zusammenarbeiten“. Anders gesagt: Sollen die Abgeordneten doch mal das tun, was das Oberste Gericht ihnen als Funktion zuweist.
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