Pannen vor Amoktat gegen Zeugen Jehovas: Polizeichef muss sich korrigieren
Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer äußert sich widersprüchlich über Ermittlungen im Vorfeld. Die Linke fordert deswegen nun seinen Rücktritt.
Wie eine Kleine Anfrage des Linken-Abgeordneten Deniz Celik ergab, haben Beamte der bei der Polizei angesiedelten Waffenbehörde im Vorfeld eines Hausbesuchs bei dem späteren Täter Philipp F. auf dessen Website gesehen, dass dieser ein Buch mit dem Titel „The Truth about God, Jesus Christ an Satan“ veröffentlicht hatte. In einem anonymen Hinweisschreiben war die Polizei auf eine mögliche psychische Erkrankung von Philipp F., dessen „Hass“ auf die Zeugen Jehovas und ganz konkret auch auf das Buch hingewiesen worden, das voller wirrer, religiös überfrachteter Geschichtsdeutungen ist.
Polizeipräsident Meyer hatte noch vor einer Woche in der Landespressekonferenz behauptet, die Beamten hätten nach dem Buch im Internet aktiv gesucht und es nicht gefunden. Nun also die Kehrtwende: Die Beamten hätten den Buchtitel auf F.s Website zwar unter „Publications“ gesehen, weil der Inhalt des Buches „nicht frei zugänglich“ gewesen sei, aber nichts Weiteres unternommen, heißt es in der Antwort des Senats auf Celiks Anfrage.
Obwohl das Buch beim Onlinehändler Amazon als E-Book für 9,99 Euro erhältlich war, hätten sich die Beamten „nicht entschieden, das Buch zu kaufen“, teilt die Hamburger Polizei mit. Und auch das eine Mischung aus Verwirrtheit und Größenwahn atmende mehrseitige Vorwort des englischsprachigen Buchs, das bei Amazon als Leseprobe kostenlos verfügbar war, haben die Beamten offenbar nicht gelesen.
Recherche nur zur Vorbereitung der „Aufbewahrungskontrolle“
In der Senatsantwort wird das damit begründet, dass die Internetrecherche „vor allem der Vorbereitung der geplanten Aufbewahrungskontrolle“ gedient habe. Die Beamten hätten deshalb neben der Rubrik „Publications“ nur F.s Selbstdarstellung zur Kenntnis genommen – in erster Linie, um etwaige weitere Adressen von F. zu ermitteln.
Anders als von Meyer zunächst dargestellt, waren seine Leute nicht unfähig, eine simple Internetrecherche anzustellen, sondern sie haben die Hinweise aus dem anonymen Warnbrief nicht ernst genug genommen, um ihnen gründlich nachzugehen.
Eine weitere zumindest eigenwillige Darstellung Meyers dekonstruiert die Senatsantwort auf die Linken-Anfrage: Meyer hatte in der Landespressekonferenz in der vergangenen Woche mehrfach die anonyme Warnung vor Philipp F. mit der Behauptung entwertet, die Polizei bekomme zahlreiche solcher Hinweise, teilweise in denunziatorischer Absicht, und könne nicht allen mit der gleichen Intensität nachgehen.
Nur „gelegentlich“ Hinweise auf bedenkliche Waffenhalter
In der Senatsantwort heißt es nun, es gebe lediglich „gelegentlich“ Hinweise auf Bedenken gegen eine waffenrechtliche Erlaubnis. Zuletzt war demnach im September ein solcher Hinweis bei der Polizei eingegangen, also drei Monate vor dem anonymen Hinweis auf F. Nach einer Überprüfung habe die Waffenbehörde der betreffenden Person seinerzeit „die Waffenbesitzkarte widerrufen, die Waffen wurden sofort sichergestellt und ein Waffen- und Munitionsbesitzverbot erteilt“, so der Senat.
Für den Linken-Abgeordneten Celik ist Meyers Misskommunikation nun Anlass genug, den Rücktritt des Polizeipräsidenten zu fordern: „Entweder Meyer hat die Öffentlichkeit bewusst getäuscht oder er weiß nicht, was innerhalb der Polizei vor sich geht – so oder so ist er dadurch als Polizeipräsident nicht mehr tragbar“, schreibt Celik in einer Pressemitteilung.
Meyer selbst hat unterdessen einen Befreiungsschlag versucht: Dem Hamburger Abendblatt hat er einen „Fünf-Punkte-Plan“ unterbreitet, um bei der Polizei „zukünftige Arbeitsabläufe bei ähnlich gelagerten Fällen zu optimieren“. Herzstück ist, dass die Waffenbehörde künftig frühzeitig das Landeskriminalamt hinzuziehen soll, unter anderem dort tätige Spezialisten für Internetrecherche und Polizeipsychologen. Auch das steht im Widerspruch zu Meyers Äußerungen in der Landespressekonferenz: Dort hatte Meyer gesagt, Polizeipsychologen wären im Fall Philipp F. keine Hilfe gewesen. „Dazu brauchen Sie Polizeipsychiater, und die haben wir nicht.“
Nach der Amoktat hat die Hamburger Polizei zwei Gutachten über Philipp F. beauftragt: ein psychiatrisches und eines zur „extremistischen Einordnung“. Letzteres hat der Sicherheitsforscher Peter Neumann verfasst, gestützt auf F.s Buch. Er attestiert dem 35-Jährigen „starke Hinweise auf eine Art religiöse Ideologie“. F. offenbare einen „Hass auf christliche Religionsgemeinschaften“, der „ein plausibles Motiv für die Tat“ sei, so Neumann, der am Londoner King’s College lehrt.
In dem Buch hatte Philipp F. auf gut 300 Seiten über „Gott, Jesus und Satan“ sinniert, über die er erstmals „die Wahrheit“ erkannt haben will. Dabei äußerte er sich auch frauenfeindlich oder lobte Adolf Hitler und Wladimir Putin. Laut Neumanns Gutachten, das der taz vorliegt, legt das Buch zwar „einige Hinweise auf antidemokratische Tendenzen“ von Philipp F. offen – insbesondere die abgelehnte Gleichberechtigung von Männern und Frauen oder den Hinweis, dass Gesetze, die dem göttlichen Willen widersprächen, geändert werden müssten. Auf ein rechtsextremistisches Weltbild von F. lasse sich dennoch nicht schließen.
Denn F.s Ideen wurzelten letztlich alle in seinem Religionsverständnis, wenn auch mit „brachialer Sprache“ und „wirren Theorien“, so Neumann. Im Buch lehne F. nirgends das Grundgesetz ab, rufe auch nicht zur Gewalt auf. Ein Gesellschaftsumsturz stehe „zumindest nicht im Vordergrund“. Selbst dass er die Verfolgung der Juden als „himmlischen Akt“ bezeichnet, sei nicht klar antisemitisch, da F. die Juden an anderer Stelle in Schutz nehme. Und es gebe keine Hinweise darauf, dass er mit der Incel-Bewegung, die Hass auf Frauen kultiviert, „in Kontakt stand oder überhaupt von ihr wusste“.
Laut Neumann übt Philipp F. vielmehr „harsche Kritik“ an christlichen Religionsgemeinschaften, denen es nur „um Macht und Geld“ gehe – ohne jedoch die Zeugen Jehovas namentlich zu nennen. Hier liege das „stärkste und plausibelste“ Tatmotiv. Neumann betont aber auch, dass er über die psychische Gesundheit von Philipp F. kein Urteil fällen könne.
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