Pädagogen vor Gericht: Vorwurf: Missbrauch

Jahrelang soll ein Ehepaar aus Gifhorn Mädchen in einer Wohngruppe für hilfebedürftige Kinder sexuell missbraucht und gequält haben.

Die Angeklagten halten im Gerichtssaal Ordner vor ihre Gesichter, der Mann mit einem neutralen Smiley

Auf der Anklagebank: das beschuldigte Paar beim Prozessauftakt Foto: dpa

HILDESHEIM taz | Sie wirken wie vertrauenswürdige SozialpädagogInnen: Maike Gudrun W., 60, rote Metallbrille, Pagenschnitt mit grauem Pony, rote Outdoorjacke. Und Johannes Maria W., 56, Vollbart, halbe Glatze, darunter Haarfransen. Beide waren bis vor Kurzem tatsächlich SozialarbeiterInnen, sie leiteten die „familienanaloge Wohngruppe Lichtblick“ im niedersächsischen Gifhorn. Seit Donnerstag steht das Ehepaar in Hildesheim vor Gericht wegen mehrfachen sexuellen Kindesmissbrauchs und körperlicher Misshandlung.

Im Gerichtssaal 134 des Landgerichts ist es kalt am Tag des Prozessbeginns, es wird noch nicht geheizt. Eisig wird es geradezu, als Staatsanwältin Christina Pannek die Anklageschrift verliest: W. soll mehrere Mädchen mit ins Bett und in die Badewanne genommen, sie an Brüsten und Genitalien berührt haben, in sie eingedrungen sein. Ebenso mussten die Mädchen seine Genitalien anfassen. Staatsanwältin Pannek spricht von elf Missbrauchstaten.

Mitunter klingt die Anklageschrift wie eine Topographie sadistischer Fehlleitungen: Weil W. das Tragen von Windeln sexuell erregen soll, soll er sich diese oft angezogen haben, wenn er die Mädchen zu sich holte. Nachdem sich ein Mädchen widersetzt haben soll, soll er das Kind gezwungen haben, zehn Windeln übereinander zu tragen.

Zwischen die Windeln soll er gelbe Plastiksäcke gesteckt und das ganze mit einem Klebeband so fest verschnürt haben, dass sich das Mädchen daraus nicht befreien konnte. Zehn Tage lang soll das Kind das „Windelpaket“ ununterbrochen habe tragen müssen, selbst unter enormen Schmerzen bei einer Wanderung.

Aus der Windel gefüttert

Über zehn Jahre hinweg, von 1998 bis 2007, sollen W. und seine Frau ihre Opfer malträtiert haben. Sechs bis sieben hilfebedürftige Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene haben regelmäßig in dem Wohnhaus in Gifhorn wie in einer Art Wohngemeinschaft zusammengelebt, gemeinsam mit den ErzieherInnen. Für die BetreuerInnen gab es einen eigenen Schlafraum.

Maike Gudrun W., die Ehefrau, soll vom „Fetisch“, wie es in der Anklageschrift formuliert ist, ihres Mannes gewusst und dessen Grausamkeiten geduldet haben. Selbst dann, als W. ein Mädchen mehrere Tage in einen Käfig gesperrt haben soll, nackt, nur mit einer Windel bekleidet. Später soll er das Kind gezwungen haben, ihn mit dem Kot und dem Urin aus ihrer Windel zu füttern. Darüber hinaus soll Maike W. Schutzbefohlene ebenfalls misshandelt haben.

Der Anwalt eines der Opfer, einer heute 33 Jahre alten Frau, hofft auf eine mehrjährige Haftstrafe für beide Angeklagte. „Ein Eingeständnis der Schuld habe ich bislang nicht vernommen“, sagte der Jurist am Donnerstag in einer Verhandlungspause. Die Kammer verhandelt vielfach unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Seine Mandantin, sagt der Anwalt, habe als Kind zunächst nicht begriffen, was ihr geschah. Später habe sie die Taten „umfassend verdrängt“. Erst mit der Festnahme des Erzieher-Ehepaars im Frühjahr 2019 sei das Erlebte in ihr aufgebrochen.

Der „Fall Lügde“, der mit langjährigen Haftstrafen und anschließender Sicherungsverwahrung nach zehn Wochen im Landgericht in der vergangenen Woche sein Ende nahm, steckt noch fest im kollektiven Gedächtnis. Die beiden Hauptangeklagten haben sich sexueller Gewalt an Kindern in rund 400 Fällen schuldig gemacht. Seitdem wird bundesweit verstärkt über mehr Kinderschutz debattiert.

In Niedersachsen soll im Oktober eine Kinderschutzkommission ihre Arbeit aufnehmen, kündigte die niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza am Donnerstag im Landtag in Hannover an. „Wir schulden den Opfern von Lüdge, dass aus den Fehlern Lehren gezogen werden.“ Damit spielt die CDU-Politikerin auf das massenhafte Behördenversagen an, involviert war in den Fall auch das Jugendamt im niedersächsischen Hameln-Pyrmont.

Erschütterung ist groß

Sobald Frauen in Sexualstraftaten als Täterinnen involviert sind – so wie jetzt im „Fall Hildesheim“ – ist die Erschütterung darüber groß. Wie kann es sein, dass Frauen so monströs handeln? Gemeinhin gelten Frauen als weniger gewaltbereit. Tatsächlich zählt die Kriminalstatistik lediglich in nur etwa vier Prozent aller Fälle des sexuellen Kindesmissbrauchs Frauen als Täterinnen auf. Bei sexueller Gewalt sind lediglich etwas mehr als ein Prozent der Täter weiblich.

Das Gericht in Hildesheim hat für den Prozess neun Verhandlungstage angesetzt.

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